Texte, Scripts & Codes.
Sprach- und Textarbeiten von AutorInnen und bildenden KünstlerInnen auf xcult.org


von Roberto Simanowski

Die Selbstbeschreibung offenbart einen lokalen und zeitlichen Rahmen: gezeigt wird, "wie auf Xcult KünstlerInnen mit Texten, Sprache und Typographie arbeiten", und zwar in den Jahren 1996 bis 2002. Der multimediale Zuschnitt der elf Text/Script-, Text/Bild-, Bild/Sprech- und Text/Bild/Sound-Stücke ist dabei so verschieden wie ihr ästhetischer Ansatz. Während einmal Bild und (gesprochener) Text nebeneinanderstehen ohne jedoch zueinander zu passen, wiederholt ein andermal der gesprochene Text den präsentierten Text oder Schrift, Bild und gesprochener Text teilen sich den Bericht einer Geschichte. In jedem Fall aber verkommt der Text nicht zur Dekoration, sondern beharrt auf seiner Rolle als entzifferbares, denkwürdiges Zeichen. Worum aber geht es konkret in dieser Sammlung? Greifen wir uns einige Beispiele zur näheren Betrachtung heraus.

In "TV Plots" von 2000 nehmen sich Monica Studer und Christoph v. D. Berg das Fernsehen vor, indem sie unaufhörlich "Vorschau-Texte aus 'TV täglich'" auf verschwommene Bilder projizieren. Plots wie: "Als ein erfolgreicher Politiker sich auf ein leidenschaftliches Verhältnis mit der Verlobten seines Sohnes einlässt, stürzt er sich und seine Familie in eine Katastrophe." Oder: "Zwei Soldaten sind angeklagt, einen Knaben in einem Bestrafungsritual getötet zu haben. Es zeigt sich, dass der Mord von oberster Stelle angeordnet war." Oder: "Erst nach dem Tod eines angeblich ehrwürdigen und beliebten Bürgermeisters werden dessen Grausamkeiten im Umgang mit den Menschen publik." Oder: "Im Hafen von P. südlich von A. explodiert ein Schiff voller Kokain. Im Wasser schwimmen 27 Tote."

Das sind Texte, wie man sie täglich zu Tausenden finden kann, als Eyecatcher für hilflose, bereitwillige Fernsehkonsumenten. Texte, die so tun, als käme in ihnen die ganze Dramatik menschlichen Daseins zu sich selbst. Es geht um Liebe, Mord und Verrat, um Heuchelei und schreckliche Unglücksfälle. Existentielle Themen, uralte Konflikte. Die unbarmherzige Unaufhörlichkeit, mit der diese Texte hier immer wieder auf die verschwommenen Bilder gesetzt werden, zieht die mediale Situation ins Zentrum. Dass die Bilder keinen Zusammenhang zu den Texten ergeben, ist Hinweis auf deren Austauschbarkeit. Man durchschaut den Einsatz der Reizwörter, wird ihnen gegenüber zunehmend unempfindlich und hat eigentlich auf keinen einzigen dieser Plots Lust. Der Gebildetere unter den Verächtern wird sich an Christa Wolfs Erklärung erinnern, Romane schreiben zu wollen, deren Handlung man nicht erzählen kann. Der Selbstkritischere unter der Gebildeteren mag sich dann fragen, ob wir nicht generell dazu neigen, Filme auf deren Handlung zu reduzieren, auf die Story, auf die Aktion.

TV Plots führt uns die Banalität dieser Filme vor Augen, indem es sie erbarmungslos auf einen durchschaubaren und voraussagbaren Satz der Beschreibung reduziert. Damit besteht zugleich kein Zweifel über die Erwartungen, die hier beim Publikum vorausgesetzt werden. Die Hausaufgabe für Nachdenker: Wie läse sich eigentlich die Beschreibung besserer Werke, die nicht im Verdacht verlogene Dramatik stehen, Sophokles' Antigone etwa oder Dostojewskis Raskolnikow. Raskolnikow als Mörder- und Liebesgeschichte oder als Konflikt menschenverachtender Menschheitsbefreiungsideen? Man ahnt, dass die Beschreibung den Gegenstand macht (so wie der Titel das Bild), je nach Zielpublikum – und das, so die Kulturkritiker, unterwirft sich schließlich dem Bild von ihm.

"Morgen mehr” von Esther Hunziker und F.X.Zbinden aus dem Jahre 2001 braucht einen klaren Kopf. Dieses Werk ist ein Versprechen, das sich schon auf den ersten Mauskontakt hin erfüllt: Im leeren Imagerahmen erscheint das Schwarz-Weiß-Bild einer Frau in einer Quizsituation. Offenbar die 50er Jahre, die aktuelle Summe beträgt $ 6 300; wie bescheiden, denkt man im Zeitalter von Who want’s to be a Millionaire. Der Klick erbringt Text aus dem Off: "Es reicht nicht”, sagt eine Männerstimme, dann bauen sich vier Imagerahmen auf, werden nacheinander mit Farbe gefüllt (Ankunft im Farbfernsehzeitalter), man hört den Einwahlton eines Modems. Ein par force Ritt durch die Mediengeschichte, noch ehe es richtig losgeht. Und wie man bald sieht, geht es auch gar nicht los, jedenfalls nicht nach vorn. Das Internet entpuppt sich als andere Form des Fernsehens, das Globale Dorf bleibt unidirektional.

Der Klick auf die Imagekästen lässt Ausschnitte aus Fernsehsendungen (Technik, Tierwelt, Straßenverkehr, politisches Tagesgeschehen ...) erscheinen und aktiviert Audiofiles. Die Bilder sind vorrangig Schwarz-Weiß, der Sound steht zumeist in keiner erkennbaren Verbindung zu ihnen; man merkt bald, dass die gleichen Bilder mitunter mit anderem Ton erscheinen. Dies geschieht jedoch nicht infolge eines zugrundeliegenden Zufallsgenerators, sondern aus klaren Kalkül der Autoren. Nach einer gewissen Klick-Zeit ändern sich schließlich die Bilder in den vier Kästen automatisch und mit sehr kurzen Schnittsequenzen, wozu mehrere Sound-Dateien völlig durcheinanderlaufen. Die Schlagwörter der Sound-Montage sind unter anderem: "Aber es ist ein guter Weg", "sind Opfer gebracht worden", "die junge Generation zu Politik", "die verdrängte nationalsozialistische Vergangenheit", "blüternrein und seidentrocken", "Baader-Meinhof-Prozess", dazu gibt es Bombendetonationen und unverständliche Artikulationen.

Die medienkritische Absicht der Vorführung liegt auf der Hand, und die unter den Audiofiles auftauchende Abmoderation von Karl Eduard von Schnitzlers legendärem "Schwarzen Kanal” erinnert auch gleich an den doppelten Boden solcher Kritik. Morgen mehr steht mit seinen gespiegelten, ausgegliederten, neu kontextualisierten Zitaten ganz in der Tradition metareflexiver Medienkunst. Und wenn man hier zunehmend eine willkürliche Neuzuordnung der vorhandenen Ton- und Bildelemente (die immerhin zumeist als dokumentarische Medien angesehen werden) beobachten kann, deutet dies schon auf jene Untiefen der Manipulation, die heute mit den digitalen Medien erreicht sind.

Zum Abschluss der Zeigefinger aus dem Off. Der Klick auf den Bilderreigen vertreibt sie alle. Plötzlich sind die Kästen leer, Stille. Nach 5 Sekunden eine glücksstrotzende Frauenstimme wie aus der Werbung: "komm, hier läuft ja alles von alleine. Vollllll auutomatisch!!” Der nächste Klick (und wer die 5 Sekunden nicht wartet, kommt gleich dahin) lässt auch die Rahmen verschwinden, erneut ist eine Männerstimme (Walter Jens?) zu hören: "Es bleibt viel zu tun, um Texte mit Leben zu erfüllen”. Ein Abschlusssatz, in dem sich die Mahnung des Anfangs noch einmal spiegelt und der, kulturkritisch genug, zugleich offenlässt, ob diese Arbeit am Text morgen mehr gelingen wird oder weniger.

"Quake" von Monica Studer und Christoph v.d. Berg aus dem Jahre 1998 ist nach dieser komplexen Installation die reinste Erholung. Es stellt die einfache Umsetzung einer einfachen Idee dar: Die Beschreibung eines Erdbebens in seiner Intensität bei gleichzeitiger Vorführung der Erschütterung durch ein kleines JavaScript, das den Inhalt des Fensters mit zunehmender Geschwindigkeit hin- und herschiebt. Ist bei Stufe I ("Not felt except by a very few under especially favorable circumstances”) die Bewegung noch recht zart, wackelt bei Stufe V ("Felt by nearly everyone; many awakened. Some dishes, windows, etc. broken; a few instances of cracked plaster; unstable objects overturned. Disturbance of trees, poles, and other tall objects sometimes noticed. Pendulum clocks may stop”) der Text schon deutlich und bei Endstufe XII – "Damage total. Waves seen on ground surfaces. Lines of sight and level distorted. Objects thrown upward into the air” – kann man ihn nur noch unter großer Anstrengung entziffern. Man hat die Analysefähigkeit und Deutungsmacht verloren, wie bei einem richtigen Erdbeben. Die Pointe des Projekts: In der Source steht der Text still zur Lektüre bereit – ein Fluchtpunkt, das wird einem nach dem Abtauchen in den Quellcode nur um so klarer, der in der Realität ebesowenig zur Verfügung steht wie die Möglichkeit, über den Back-Button auf eine erträglichere Erdbeebenstufe zurückzugehen oder, wenn alles vorbei ist, "Have another quake" zu klicken.

Die Idee dieser kinetischen Variante konkreter Poesie ist simpel, aber originell: Quake lebt und bebt durch ein kleines JavaScript und ist insofern Software-Kunst im Sinne von Lev Manovich (vgl. Manovichs Essay "Generation Flash": www.manovich.net/DOCS/generation_flash.doc). Demgegenüber unterstrichen die TV Plots der gleichen Autoren Manovichs zugespitzte Beschreibung des Media-Artist als "a parasite who leaves at the expense of the commercial media”: man borgt sich das Material bei den kommerziellen Medien und entlarvt es durch eine entsprechende De- und Rekontextualisierung. Ist TV-Plots auch ‘Kunst aus zweiter Hand’, so ist es doch trotzdem oder gerade deswegen medienkritisch. Der Software-Künstler hingegen "does not waste its energy on media critique”, wie Manovich weiter festhält; und Quake, in dessem Mittelpunkt weniger das Erdbeben als dessen technische Simulation durch entsprechenden Code steht, wäre durchaus ein Beispiel dafür.

Ganz im Zeichen des technischen Effekts steht auch "Der positive Herzinfarkt" von Hansjörg Marti, eine anschauliche Behauptung "Über das Liebesleben der Nullen" aus dem Jahre 1997. "Sollten auch Sie zu den Individuen gehören, die von sich selbst behaupten, null (0) Glück in der Liebe, oder sogar null (0) Begabung für die Liebe zu haben, klicken Sie oben auf Glück und Begabung. // Dass auch für Menschen mit einer solchen Nullwertliebesbegabung durchaus Chancen auf das Erleben der Liebe bestehen, zeigen wir Ihnen nun anhand der grafischen Begegnung dieser zwei Nullen." Am Ende des Textes angelangt, sieht man das Wort »Glück« längst aufleuchten, bereit für den Klick. Dem folgt das grafische Spiel zweier großer Nullen, die sich so lange zueinander neigen, bis ein Herz daraus wird. Der Neigung folgen andere, woraus ein vierblättriges Herzkleeglücksblatt entsteht und schließlich eine Überlappung der Herzen, das "Larme des amoureux" (Träne der Verliebten), auf Deutsch: "Zone erhöhten Infarktrisikos”, womit sich der Widerspruch des Titels löst. Die Schlussfolgerung – "Wir erkennen, dass nur lieben kann, wer sich selbst liebt” – ist einem zwar nicht neu, kommt hier aber unvermittel genug, um zu überraschen. Was soll es bedeuten? Wo ist der Zusammenhang? Egal. Im Grunde geht es um das typografische Bewegungsspiel, um das Experimentieren mit Macromedia Director im frühen Jahr 1997 und um die Pointe: "Du liebe Null du, ich hab dich gern." Dieserart erheitert sollte man der zweiminütigen Animation nicht verdrossen Konsistenz und Botschaft abtrotzen, sondern sich zufrieden geben, mit dem, was sie sein will: Unsinnspoesie im digitalen Gewand.

Das dritte in dieser Sammlung präsentierte Werk von Monica Studer und Christoph v.d. Berg, "mixed double” (1999) verbindet die Freude am Programmieren dann wieder mit einem medienkritischen Impuls. Hier laufen in einem linken und in einem rechten Feld Wörter so schnell durch, dass man sie nicht erkennen kann. Durch einen Klick auf den Search-Link lassen sich die Wörter anhalten, aber noch nicht lesen, denn der Klick öffnet zugleich ein neues Fenster, in dem altavista.com die Suchergebnisse zu den zwei gestoppten Begriffen anzeigt. Damit hat man zweifach blind das Netz genutzt: Man hat Wörter in die Suchmaschine eingegeben, ohne es zu wollen, und man hat Wörter eingegeben, die einem unbekannt blieben, bis es zu spät war. Plötzlich steht man da mit 100 unbestellten Links zu Wortpaaren wir Trust und Dullness oder Hate und Joy oder Happiness und Jealousy oder Amusement und Disappointment. Soll man klicken und lesen? Oder soll man zum Werk zurückkehren, um sich die Sucherergebnisse für neue Wörter anzeigen zu lassen? Aber wozu? Um die Funktionsweise des Werkes zu prüfen? Und dann?!

Das Werk gibt einem Antworten auf Fragen, die man gar nicht gestellt hat. Die Antworten wiederum geben nicht die Autoren, sondern das Netz selbst, die Autoren jener Websites, die altavista.com auflistet. Und ist dies nicht genau das, was Lektüre im Netz ausmacht: Das eher zufallsgesteuerte Verfolgen von Links, um niemals dort anzukommen, wohin man ohnehin nicht wollte? Mixed double ist clevere Software-Anwendung und Problematisierung des Mediums zugleich – die Simplizität der Anordnung spricht, wie bei allen einfachen Darstellungen komplexer Sachverhalte, zusätzlich für das Werk.

"Felloni & Buonvicini” von Daniela Keiser (2002) ist weit weniger auf den Eindruck eines technischen Effekts aus und überhaupt viel ernsthafter bei der Sache. In 14 Sprachen wird die Beschagnahmung einer offenbar gefälschten 50 000 Lire Banknote erzählt, die Keiser Daniela am 31. Juli 1996 in einem Bahnhofsrestaurant in Zahlung gab. In 14 Sprachen siehet man das Beschlagnahmeprotokoll, das zugleich vorgelesen wird. Man erfährt nicht, ob die Banknote wirklich gefälscht ist und wenn ja ob Keiser Daniela davon wusste oder gar daran mitwirkte. Immerhin, man ist am Ende gut informiert über die verschiedenen Arten der verschiedenen nationalen Bürokratien, den ungeklärten Sachverhalt in Worte zu fassen.

Bemüht schon im Titel ist "Faustian Bargain” von Martin Grether (1997). Der Teufelspakt ist der Superinformationshighway, in den jetzt Billionen an Dollar gepumpt werden, ohne dass der Sinn dieser Investition feststehe. "What is the problem to which the superhighway will be the solution?” fragt Grether mit Neil Postmanschem Zungenschlag und hat auch gleich die Antwort: "technologies do not always increase people’s options”. Der Beleg ("we now have available only 60 television channels with superhighway we will have access to 500 hundreds maybe even 100 100”) trifft mit seiner Unterschlagung der Bidirektionalität des Internet zwar nicht ganz die Sache, ist aber bildlich recht schön umgesetzt, wenn die Wörter dieser Aussage sich bis zur Unlesbarkeit übereinanderschreiben, wie ein krankes Palimpsest oder eben eine Menge TV-Kanäle, die einem unentrinnbar im Kopf umherschwirren. Das Verwirrende an diesem Essay ist das Design, in das es sich hüllt. Unterlegt mit Cool-Jazz spricht eine telefonverzerrte Männerstimme den Text, der zugleich auf dem Bildschirm als typographisches Spiel erscheint. Das wirkt recht hip und hinterlässt den Eindruck, dass Martin Grether zumindest den ästhetischen Reiz neuer Technologien zu schätzen weiß. Und genau das ist das Eigentor des Faustian Bargain als Essay: die Technikkritik ist selbst in die Technik verliebt und nutzt die möglichen Effekte als Ausweitung ihrer selbst ins Faszinosum des Apparats – ganz wie es McLuhan in Understanding Media beschrieb (The Gadget Lover: Narcissus as Narcosis). Leider heisst dies nicht, dass Faustian Bargain dafür als Kunstwerk punkten würde; dazu fehlt es an Ironie, dem Text gegenüber und gegenüber der Art und Weise, wie dieser sich präsentiert.

"Texte, Scripts & Codes” ist die Sammlung auf xcult.ch überschrieben, und das ist ein gut gewählter Titel. Er lenkt das Augenmerk auf Script und Code als Text, der nicht auf der Bildschirmoberfläche zu sehen ist, sondern unter dieser Wirkungen auslöst, die sich oberhalb kundtun: als Bewegung, als Sound, als typographisches Spiel. Die Sprach- und Textarbeit, die der Untertitel annonciert, zielt nicht auf Buchstaben allein; Sprache der digitalen Medien ist Wort und Bild, Link und Bewegung, Farbe und Ton und nicht zuletzt die Interaktion mit dem Publikum. Das führt freilich zur Frage, wie solcher ‘Text’ zu lesen ist. Was bedeutet die Realisierung eines Scripts über die Faszination des technischen Effekts hinaus? Wenn der Text über das Erdbeben bebt, lässt sich noch leicht Kohärenz von Form und Inhalt erkennen. Wenn der technologiekritische Text sich mit technischen Effekten schmückt, lädt zumindest der interne Widerspruch zur Deutung ein. Was aber, wenn der Effekt sich ganz von der Absicht einer Botschaft löst? Wenn es nur noch um das Spiel mit den Möglichkeiten der Programmierung geht? Wie steht es dann mit dem Selbstverständnis digitaler Sprach- und Textarbeiten?

Der Kurator einer anderen Ausstellung digitaler Kunst – Klaus Nicolai vom CYNETart-Festival in Dresden – hat bezüglich der Funktion digitaler Kunst klare Forderungen: "Die Anwendung von neuen technischen Möglichkeiten ist insofern künstlerisch reizvoll, als damit eine modifizierte künstlerische Botschaft übertragen wird. Wenn das nicht der Fall ist, kann es zwar eine interessante experimentell Form sein, mit Software oder neuen Netzstrukturen umzugehen, aber ob damit auch das Kriterium der Kunst erfüllt ist, bleibt fragwürdig. Die künstlerische Botschaft zielt letztlich immer noch auf existentielle menschliche Fragestellungen, die heutzutage nicht mehr aus globalen und politischen Dingen wegzudenken sind.” (Interview in: Manfred Faßler, Ursula Hentschläger, Zelko Wiener: Webfictions. Zerstreute Anwesenheiten in elektronischen Netzen, Springer Verlag Wien, New York 2003, S. 211) Damit ist auch die Kunst in bzw. mit den digitalen Medien in die gesellschaftliche Pflicht genommen; und die hier versammelten Werke können zum Großteil von sich sagen, dass sie ihr Soll erbracht haben. Gleichwohl ist der Konflikt damit keineswegs gelöst, und zwar in zweifacher Hinsicht.

Zum einen stellen solche engagierten, medien- und gesellschaftskritischen Werke wie die hier versammelten im Zeitalter der Generation Flash vielleicht schon eher die Ausnahme dar. Man findet zunehmend Werke, die viel mehr Augenmerk auf komplexe Programmierung, cooles Design und hypnotische Effekte legen und mit sicherem Kalkül die Leichtigkeit des Staunens an die Stelle begeisterunsgloser Erkenntnis der guten Absicht setzen (Squid Soups Untitled (http://www.theremediproject.com/projects/issue7/squidsoupuntitled/index.html) wäre ein Beispiel dafür (Besprechung in dichtung-digital.org 5/2001). Zum anderen gibt es mit der formalen Ästhetik Anfang des 20. Jahrhunderts Vorläufer in der Kunstgeschichte, die in ähnlicher Weise die Form von der Bürde des Inhalts zu befreien suchten, das visuelle Zeichen von seiner repräsentativen Rolle, Bedeutung für etwas anderes als sich selbst zu tragen. Steht uns Anfang des 21. Jahrhunderts eine Rückkehr zur formalen Ästhetik bevor? L’art pour l’art digital? Ist der autonome, allein auf sich verweisende technische Effekt das zeitgenössische Äquivalent zum einstigen Prinzip der reinen Sichtbarkeit seiner selbst? Geht es, wie damals um das Image an sich, heute um den Code an sich?

Dies sind Fragen, die sich angesichts der vorliegenden Sammlung nicht aufdrängen und die gerade deswegen zu stellen sind. Denn der sensuelle Spartanismus der hier versammelten Beispiele ist nichts, warauf man bauen kann. Es gibt viele Möglichkeiten, Texte mit Leben zu erfüllen; es reicht vielleicht nicht, die künstlerische Botschaft allein nach den Maßstäben einer bedeutungsversessen Ästhetik zu messen.


15.2.2003