9.5.00


Noch immer erkennt der Laie einen wissenschaftlichen Text daran, dass unter oder hinter dem eigentlichen Haupttext ein beeindruckender Apparat von Fussnoten folgt. Und gelegentlich finden sich in diesen Anmerkungen gar die interessanteren Passagen. Etwas überspitzt formuliert könnte man sagen, das Netz mit seiner Möglichkeit des Hypertext kehre die Verhältnisse nun vollständig um, mache die Fussnote zur eigentlichen Hauptsache – zu einem Abenteuer auch, denn in jeder Fussnote finden sich erneute Verweise auf andere Fussnoten und ein Ende ist nicht abzusehen. Theoretisch wäre es gar möglich, von einem einzigen Text aus sämtliche in die weltweiten Netze gespiesenen Texte anzuwählen. Zur Abschätzung dieser Dimension stelle man sich einen gedruckten wissenschaftlichen Text vor, dessen erste Fussnote die ganze Bibliothek nur schon einer einzigen Universität enthält. Dass Netzkunst aber noch ganz andere Möglichkeiten des Umgangs mit Texten bietet, illustrieren die folgenden Beispiele.

"Wortspiel"
Im Webrojekt Cyber Atlas des Guggenheim Museums New York lassen sich interessante Kunstprojekte entdecken. Die Gestaltung des Cyber Atlas ist selbst sehenswert, denn der Frage, wie sich (Text-) Daten in einem interaktiven, dynamischen Interface verknüpfen und darstellen lassen, gehört heute grösste Aufmerksamkeit. Ein Link des Cyber Atlas führt zu Mark Tinklers Visual Thesaurus, einer raffiniert programmierten Darstellung von sinnbezogenen Wortverknüpfungen. Dieses relationale Diagramm sucht in ständiger, organisch weicher Bewegung nach einem harmonischen Ausgleich seiner Struktur, angewählte Begriffe wandern von der Peripherie ins Zentrum und schaffen um sich neue dreidimensionale Sinngefüge. Seinen Reiz entwickelt Visual Thesaurus vor allem als künstlerisches Modell einer neurolinguistischen Strukturanalyse, oder, etwas gedämpfter ausgedrückt, als bildästhetisches "Wortspiel" rest
http://www.guggenheim.org/exhibitions/virtual
http://www.plumbdesign.com/thesaurus


The Exquisite Corpse
Letzte Woche wurden die Preisträger der Ars Electronica 2000 bekanntgegeben. Zu den 3 prämierten Arbeiten in der Kategorie .NET gehört The Exquisite Corpse von Sharon Denning und Ken Ficara. Der Titel erinnert an "cadavre exquis", das interaktive Schreib- und Zeichenspiel der Surrealisten. Auch bei The Exquisite Corpse geht es um ein partizipatives Erzählmodell. Ein Kurzzitat von Italo Calvino eröffnet eine Geschichte, welche durch Texteingabe der Besucher verschiedene Fortsetzungen und Enden finden soll. Die Geschichte wird nicht linear forterzählt, sondern wuchert nach allen Seiten aus. Wie das Projekt Visual Thesaurus führt The Exquisite Corpse vor, dass sich das Web für nichtlineare Sprachverknüpfungen und Textschichtungen bestens eignet, dass jedoch die Strukturprogrammierungen weiter entwickelt sind, als ihre literarischen Anwendungen. So finden die Einsamkeitsartisten, ob Künstler oder Literaten, im neuen Medium das Angebot interdisziplinärer Zusammenarbeit. rest
www.repohistory.org/circulation/exquisite/ec_fr.html


Ein bewegendes Erlebnis Bevor man diese Seite von Monica Studer (1960) und Christoph van den Berg (1962) ansteuert, sollte man besser die Kaffeetassen vom Schreibtisch räumen: In seinem Projekt «quake» hat das Basler Künstlerduo zwölf lexikalische Definitionen von Erdbebenstärken (Mercalli Earthquake Intensity 1-12) umgesetzt. Bei Intensität Eins («Not felt except by a very few under especially favorable circumstances») ist die Bildschirmwelt noch ganz stabil, bei Intensität Zwei beginnt der Text bereits ganz leicht zu wackeln, bei Stärke Sechs wird die Übertragung vorübergehend unterbrochen und bei Stärke Zwölf schliesslich («Damage total») beginnt der eigene Kiefer unweigerlich zu schlottern, so heftig bebt der Schirm. she
Site: http://www.xcult.org/ateliers/um/quake/quakeset.html