23.1.01


Die Theorie der neuen Kommunikationsmedien befruchtet die Urbanismus-Diskussion, und umgekehrt. MVRDV, das bekannte Architekturbüro in Rotterdam, welches mit dem holländischen Pavillon an der Weltausstellung ein vertikales Verdichtungsmodell vorgeführt hat, denkt unter dem Begriff "Datatown" die alte Stadt als statistische Extrapolation weiter. Nach einer klassischen Definition wird die mögliche Ausdehnung einer Stadt beschrieben als Äquivalent zu einer Wegstunde. Im Mittelalter ergab das 4 Km (Fussmarsch), in den 1920er Jahren 20 Km (Fahrrad) und um 1980, zum Beispiel in Los Angeles, 80 Km. Mit den Hochgeschwindigkeitsszügen von morgen würde sich die nach diesem Modell weitergedachte Stadt auf einer Fläche von 400 x 400 Km ausdehnen, was bei einer grossen Siedlungsdichte zu einer Einwohnerzahl von 240 Millionen führen müsste: die Bevölkerung der USA in einer Stadt.
Doch nach Florian Rötzer ist die städtische Verdichtung eine Vernetzungsidee des 19. Jahrhunderts, welche durch die neuen Kommunikationsmedien obsolet wird. Tatsächlich gehört die Stadtmetapher seit McLuhan zum Vokabular der Medientheorie. Metaphern setzen Abstraktionen voraus, denn nur durch begriffliche Distanznahme lässt sich ein Phänomen verbal in ein anderes übersetzen. Daran arbeiten Theoretiker wie Künstler, wenn sie in ihren Medienarbeiten die Stadt als urbane Maschine, als Krümmung im intersubjektiven Raum oder als Schauplatz des interaktiven Vandalismus begreifen.
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Urbanes Gemurmel
Die Künstlergruppe Knowbotic Research definiert das städtische Ensemble als heterogenes und dynamisches Kräftefeld. Das urbane Gemurmel wird gespiesen vom Lärm der Autos und Ghetto Blasters, der Allgegenwärtigkeit von Graffitis und Tags, der Präsenz von temporärer und dauerhafter Architektur und der Durchdringung von elektronischen und sozialen Netzwerken. In ihrer interaktiven Medienarbeit untersucht Knowbotic Research die Netzwerktopologie in Analogie zur "urbane Maschine". Die Beschäftigung mit ihren interaktiven Rauminstallationen, den Interfaces auf dem Internet und mit ihrer anspruchsvollen medientheoretischen Reflexion setzt ein intensives Studium voraus. Noch bis zum 4. Februar ist das möglich in der Ausstellung "Daten zur Stadt unter den Bedingungen der Informationstechnologie" im Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe.
Projektseite von Knowbotic Research: http://io.khm.de/
Ausführlicher Text zur Arbeit von Knowbotic Research: http://www.kulturprozent.ch/brainstorming/referenten/willhelm/knowbot.htm
Informationen zur Ausstellung im ZKM: http://on1.zkm.de/zkm/city/


Didaktische Utopie
Als Work in Progress wurde von 1998 bis 2000 das Netz-Projekt "Hamburg Ersatz" aufgebaut. Die Künstler Christiane Dellbrügge und Ralf de Moll bezeichnen das Web als idealen Un-Ort, um aus der hypothetischen Distanz Möglichkeitsformen des Zusammenlebens einen Platz einzuräumen. Utopien erwachsen aus der Unzufriedenheit mit dem Bestehenden und nehmen vorausdenkend dessen Veränderung vorweg.
In einem Turm voller Animationen und Interaktionsangebote siedeln Dellbrügge und de Moll auf 7 Ebenen verschiedene Themen-Schwerpunkte an: utopische Haus- und Stadtmodelle, Philosophengespräche, Studien zur klanglichen Analyse des urbanen Raums und zuoberst im Turm der Ausblick ins All und auf ausserirdische Siedlungsformen.
http://hamburg-ersatz.trmd.de/


Interaktiver Vandalismus
New Yorker Stadtästhetik prägt Vlasta Vulcanos audiovisuelles Projekt "Firebox Mystery". Hintermalt mit Rap-Sound und sehenswerten Flash-Animationen wird die Geschichte von Miklos Serrai erzählt, der für Graffitis nur noch ein Schulterzucken übrig hat. Denn er setzt seine Zeichen spät nachts mit dem Auto, wenn er die roten Feueralarm-Kästen in den Strassen Manhattans karambolierend zu Eckskulpturen ummodelliert.
Reinhard Storz
Site: http://www.turbulence.org/Works/firebox/html/

Gute Liste von Aufsätzen zum Thema Stadt am Netz:
http://www.heise.de/tp/deutsch/special/sam/