Paolo Bianchi
Katze Tiger Schmetterling
I
Leben (Tiger), Kunst (Sticken) und Werk (Fotografie) bilden im Tryptichon
des Lebenskunstwerks keine Bastion des Linearen, statt dessen einen Weltenknoten
ñ und Knoten lassen sich nicht mit einer Hand knüpfen und lösen.
Dinge passieren nebeneinander, nicht hintereinander. Wirklichkeiten konkurieren
simultan. Katze, Tiger und Schmetterling stehen, dem Prinzip der Morphose
folgend, für Anschaulichkeit, Schnelligkeit und Leichtigkeit. Wie das
Leben zur Kunst gemacht wird, bleibt nicht länger eine offene Frage.
Der ästhetische Auftrag lautet: Die Poesie abschütteln, indem
man Poesie macht, kurz: poetisch leben. Bei diesem Knoten ist die Lösung
das Problem. Allerdings: Besser den Knopf in der Hand als einen Knopf im
Kopf. Und Obacht: Ariadnes Faden führt direkt in die Irre, wenn sich
plötzlich herausstellt, dass ein anderer die Fäden in den Händen
hält und dass sie selbst an einem davon hängt.
II
Die Katze ist ein ambivalentes Symboltier. Im Mittelalter galten (vor allem
schwarze) Katzen als Hexentiere, der schwarze Kater stand für den Teufel.
Abergläubische Menschen sehen im schwarzen Kater einen Unglücksbringer.
In gypten wurde die häusliche, wendige und nützliche Katze als
heiliges Tier der Göttin Bastet, der Beschützerin des Hauses,
der Mütter und Kinder verehrt. Die Katze regnet vom Himmelsgewölbe.
Geboren durch die Einbildungskraft? Oder einer körperlichen Phantasie
entsprungen, die sich im Chaos der Träume manifestiert? Italo Calvino
erzählt, dass nach Dante wie auch nach Thomas von Aquin es eine besondere
Lichtquelle im Himmel gibt, die ideale Bilder aussendet, die entweder nach
einer inneren Logik der imaginären Welt ("von selbst") oder
nach dem Willen Gottes geformt sind. Calvino selbst versuchte, "die
spontane Erzeugung von Bildern mit der Intentionalität des diskursiven
Denkens zu vereinen".
III
Der Tiger besitzt als Symbol der Kraft und Wildheit sowohl negative als
auch positive Bedeutung. In China gilt der vor allem durch das Prinzip Yin
geprägte Tiger als guter oder böser Gegenspieler des Drachen (dem
Prinzip Yin entspricht das Negative, Dunkle, die Erde, die Passivität,
das Feuchte, die unterbrochene Linie; dem Prinzip Yang das Positive, Helle,
der Himmel, die Aktivität, das Trockene, die ununterbrochene Linie).
Im Buddhismus ist der Tiger ein Sinnbild für geistige Anstrengung.
Da er sich auch in der Dunkelheit und bei Neumond orientieren kann, steht
er für das innere Licht oder auch für die Zunahme von Licht und
Leben nach dunklen und schweren Zeiten. Für den Lebensphilosophen Henri
Bergson war das Leben ein dauernder schöpferischer Prozess, getragen
vom "Èlan vital" (Lebensimpuls), der sich in drei Lebensformen
differenziert: Pflanze, Tier und Mensch. Der den Tieren eigene Instinkt
und der Intellekt des Menschen sind Weisen intrumentellen Handelns. Die
Teilnahme am schöpferischen Lebensimpuls ist nur durch eine Vertiefung
des Bewusstseins in der Intuition möglich, die Instinkt und Intellekt
verbindet. Die Schnelligkeit des Tigers steht zugleich für eine Schnelligkeit
im Stil und im Denken, bedeutet Agilität, Mobilität und Zwanglosigkeit.
Lauter Eigenschaften für eine zu Abschweifungen bereiten Kunst: von
einem Thema zum anderen springen, den Faden hundertmal verlieren und ihn
erst nach hundert Wendungen wiederfinden.
IV
Die Leichtigkeit des Schmetterlings und seine bunte Schönheit machen
ihn in Japan zum Symbol der Frau. Wesentlich ist seine Metamorphose vom
Ei über die Raupe und die der Todesstarre verhafteten Puppe zum strahlenden
Flügelinsekt. In der Antike ist der Schmetterling ein Symbol für
die durch den physischen Tod nicht zu zerstörende Seele (sein griechischer
Name ist psyché). Philosophie bedeutete für Sokrates die "Sorge
um die Seele". Für Platon besitzt die Seele eine Prä- und
Postexistenz: Sie hat vor dem irdischen Dasein schon genauso existiert wie
nach dem Tode. So wie das ausgesprochene Wort Abbild des Gedankens ist,
ist für Plotin die Seele Abbild des Geistes. Die Seele verbindet die
Sphären des Geistigen und des Stofflichen. Als Weltseele durchdringt,
formt und beseelt sie den Kosmos und verleiht der Welt ihre Harmonie. Für
Thomas von Aquin enthält die Seele verschiedene Vermögen, die
sich auch als Eigenschaften der Kunst erkennen lassen: das vegetative =
Lebenskraft, sensitive = Sinneswahrnehmung, appetitive = triebhaftes Streben,
motive = Ortsbewegung und rationale = Verstand. Für Buddha gibt es
kein beständiges Sein, sondern alles ist im Werden und Vergehen begriffen.
Daher verwendet er auch den Begriff des Selbst (Seele) nicht, da es keine
dauerhaften Substanzen gibt. Die Tätigkeit der Künstler ist es,
bald den Menschen, bald alltäglichen Dingen, bald der Welt, bald der
Kunst Gewicht zu nehmen und zu geben.
V
Die Gegenwart besteht aus unspektakulären Situationen: etwa dem Duft
der Blumen in der Vase, der Fliege auf dem Bauch, dem ausgelassenen Spiel
mit Kindern oder dem stillen Moment unter der Dusche. Keine Vernissage ohne
Hut. "You can leave your hat on", singt Randy Newman. Alltägliches
statt Sensationen, nein: die Sensationen des Alltäglichen schärfen
die Sinne, lassen Nuancen spüren, hinter den Nebel der Dinge blicken
und den Rhythmus fühlen. Die Sensibilität für das Momentane
glaubt nicht an die Macht des Linearen: Für den Selbstdichter ist das
Leben keine Geschichte, die man erzählen könnte, sondern etwas
Selbstgesticktes. Es ist allenfalls eine Geschichte, die man selbst erleben
kann. Auch ohne die Sicherheit letzter Werte, ohne die Hoffnung auf die
totale Befreiung und ohne feste Identitäten lässt es sich ganz
anständig leben. Darum verlieren die "Tamil Tigers" an Kraft.
Wer darauf beharrt, zwischen Kunst und Leben strikt zu unterscheiden oder
wer den Abstand zwischen Kunst und Leben nicht wahrhaben will (Kunst = Leben),
kann das Phänomen Lebenskunst nicht erkennen, weil er das "Leben"
von hinten liest, was "Nebel" ergibt. In Hermann Burgers Roman
"Schilten" hält der Lehrer mit seinen Schülern draussen
im Nebel Unterricht. Sie müssen sich so weit auseinander setzen, dass
keiner mehr den anderen sieht, und der Lehrer diktiert ihnen ins Heft: "Nicht
für das Leben, für den Nebel lernen wir."
VI
Gute Kunst, Poesie, Musik oder Philosophie hat, gerade wenn sie radikal
und selbstbewusst ist, etwas Schlechtes an sich. Schlecht nicht als etwas
Allzuschönes und Ðberfreundliches, sondern im positiven Sinn als
etwas Nonchalantes, als etwas Unberechenbares, Widerspenstiges und Handgemachtes.
Schlecht nicht wie ein Reizmittel, sondern ästhetisch fehlerhaft, nicht
ganz perfekt, wie ein Irrläufer. Wer nichts wagt, kann auch nicht scheitern.
Künstler, die mit Kunst das Leben verändern wollen, wagen viel
ñ und gewinnen. Und wenn es doch zu einem gelingenden Scheitern kommt,
dann geschieht das als Ironie, als Verzicht auf Pathos und Ideologie, als
Lakonik und als Befremden über das eigene Tun. Der Faden muss nicht
reissen.
VII
"Katze Tiger Schmetterling" bilden eine offene prozessuale Form,
die in der Lage ist, verschiedenste Formen, Gattungen und Stile zu integrieren.
Vielleicht handelt es sich um ein anspruchsvolles Konzept einer ästhetischen
Mythologie. Der "wahre Betrachter" muss sich als "erweiterter
Autor" verstehen, der sich der "freyen Operation" (Novalis),
der Interpretation gewachsen zeigt. In der Vermischung von Bahnhofsarchitektur
und Tiergestalten, von Fakt und Fiktion, in der Genreüberschreitung
von Fotografie und Sticken entsteht ein hybrides Genre, eine Hybridität,
die an den Cyborg erinnert, ein Mischwesen aus Mensch und Maschine, der
zur Leitfigur einer feministischen Politik wurde, die sich Naturwissenschaften
und Technologie aneignet, um die materiellen wie diskursiven Ðbergänge
und Austauschprozesse zwischen Menschen, Tieren und Dingen zu erfassen.
Text, Kontext oder Subtext lösen sich auf im Hypertext (gr. hypÈr;
über; lat. textere: weben, flechten), geniessen die Unfähigkeit,
nicht ein Ende zu finden, statt dessen ein Werk zu schaffen, das sich kraft
seines eigenen Lebensprinzips von innen heraus immer mehr verdichtet und
erweitert. Ein alles mit allem verbindendes Gewebe und Geflecht.
VIII
Wer die Kunst des Fotostickens dahin treibt, die Inszenierung als Falte
des Stoffs zu interpretieren, macht aus dem Werk eine Falten-Falte, die
mit dem Faden eine Verbindung eingeht. Wer dem Faden der Parzen und Nornen
(Schicksalsgöttinnen) folgt, gelangt nicht an einen Ort, an ein Ziel
oder an eine Endlichkeit, sondern begibt sich auf Assoziationsfelder der
Verknüpfung. Eine Navigationsart der Wiederholung und der Unendlichkeit.
Beim Sticken des Künstlerfadens wird die Falte zwischen Fotografie
und Stoff zum Instrument der Konnexion: Unterschiedliches schliesst sich
weder aus noch ein, es kann gefaltet werden von einem zum anderen, verkettet
ohne Ketten, man kann Springer und Springerin sein, Spinnerin des Lebensfadens.
Gut möglich, das Falten Fallen sind. Wer zeigt schon gerne seine Falten,
seine Wunden und seine Verletzlichkeiten. Falten zeigen, steht für
eine entwaffnende Ehrlichkeit. "Das Entfalten", schreibt der französische
Philosoph Gilles Deleuze, "ist nicht das Gegenteil der Falte, sondern
folgt der Falte bis zu einer anderen Falte." Gut möglich also,
dass nach dem Blick auf die Falten unsere Bilder von Kunst hinterher völlig
anders aussehen, Faltenwürfe geworden sind.
Text erschienen in:
Marion Strunk: Wolle 2/embroidered images. Foto+Faden
memorycage Editions, Zürich 99
www.memorycage.com