Barbara Basting

Das Museum braucht die Netzkunst, nicht umgekehrt

Ein Gespräch mit der amerikanischen Netzkünstlerin Natalie Bookchin in der Zürcher Netzkunst-Ausstellung "Widerspenstige Praktiken"



Kann es heute, angesichts der rasch fortschreitenden Ökonomisierung des Kulturellen, noch eine im politischen Sinn kritische, widerständige Kunst geben? Gibt es künstlerische Ansätze, die die immensen Herausforderungen durch Informations- und Biotechnologie adäquat reflektieren? Solchen und ähnlichen Fragen geht derzeit die Ausstellung "Widerspenstige Praktiken" in der Zürcher Shedhalle - eigentlich eher eine Art Medialounge - nach.
Die Liste der Beteiligten zeugt vom Ehrgeiz der Kuratorin Yvonne Volkart, wichtige Positionen des Netaktivismus, der engagierten Netzkunst, zu bündeln. Die Amerikanerin Natalie Bookchin, die als Professorin am renommierten California Institute of the Arts ("Calart") lehrt, hat sich in der Szene besonders profiliert. Zusammen mit dem Moskauer Netzkünstler Alexej Shulgin und dem Deutschen Joachim Blank, die ebenfalls zu den Pionieren gehören, ist sie auf der Überblicksausstellung "Netcondition" 1999 im Karlsruher Zentrum für Kunst- und Medientechnologie (ZKM) mit einem gewitzten Beitrag aufgefallen. Ihre "Introduction to net.art (1994-1999)" liess das Künstlertrio in Stein meisseln. Damit widersprach es gängigen Erwartungen - Netzkunst findet im Netz statt und ist immateriell - mit ironischem Augenzwinkern.
Im Gespräch erklärt Natalie Bookchin, welche Bedeutung sie Netzkunst heute beimisst, wo sie deren Potentiale sieht und welche Ziele sie mit ihrer eigenen Arbeit verfolgt. Vor kurzem hat die alerte Künstlerin - die übrigens diverse Arten von Kollaboration als Charakteristikum der Netszene hervorhebt - sich den kalifornischen Netzaktivisten von "rtmark" angeschlossen. Diese sind durch gezielte Aktionen, etwa den Protest gegen die World Trade Organisation WTO oder im Prozess gegen die Spielzeugfirma "Etoys" einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden. In der Zürcher Ausstellung ist Bookchin mit "Intruder", der Game-Bearbeitung einer Erzählung von Jorge Luis Borges vertreten, die auch übers Web zugänglich ist. Ein Credo der Künstlerin lautet: "Der ideale Ort, um sich Netzkunst anzuschauen, ist der eigene Computer."
Bookchin weist auf einen symptomatischen Wandel in der Rezeption der Netzkunst hin: "Heute müssen Netzkünstler, die sich einen Namen gemacht haben, ihre Arbeit nicht in Museen ausstellen. Im Gegenteil, Kuratoren, Kritiker und Museumsleute bemühen sich um Netzkünstler, wenn sie die jüngsten Entwicklungen in der aktuellen Kunst zeigen wollen - nicht umgekehrt." Ohnehin seien die wirkungsvollsten Werke im Netz oft gerade jene, die nicht "auf Einladung" erschienen, sondern auf den Überraschungseffekt setzten. "Es ist schön, wenn Museumsleute unsere Arbeit anerkennen", meint Bookchin stolz, "aber es ist letztlich für diese Art von Intervention nicht notwendig."
Der Netzaktivismus, den Bookchin heute für künstlerisch produktiver und weitaus spannender hält als designorientierte Formen, ist für die Kalifornierin eine logische Konsequenz in der Entwicklung der Netart. Als diese um 1995 parallel zu den grafischen Benutzeroberflächen, den Browsern, entstand, lag der Reiz vor allem darin, mit den HTML-Codes zu experimentieren. Auch habe man, so Bookchin, wie immer, wenn ein Medium neu entstehe, erst einmal versucht, ältere Formen darin zu repetieren und beispielsweise gescannte Fotografien ins Web gestellt. Eine weitere Stufe sei die Reflexion der Strukturen des neuen Mediums gewesen, zu denen Browser und Suchmaschinen gehören. Dieses Projekt sei zwar nicht abgeschlossen, aber in gewisser Weise erschöpft, werde allmählich zum Genre. Man treffe immer mehr Plagiate einstmals irritierender Eingriffe an, wie sie das berüchtigte Netzkünstler-Duo JODI praktiziert hat.
Heute gelte es eher die Grenzen zwischen Netart und Netaktivismus zu verwischen und das Netz für kritische Interventionen zu nutzen, die ein breites Publikum jenseits des Kunstbetriebs erreichen. "Rtmark" etwa sei inzwischen in der Lage, mächtige Konzerne zum Dialog zu zwingen. "Nur dank Internet kann Rtmark wie ein Stachel im Fleische der globalen Konzerne wirken, die den demokratischen Prozess auszuhöhlen versuchen." Es gehe darum, durch subtile taktische Eingriffe Diskussionen anzuzetteln und antidemokratische Verhaltensweisen blosszustellen, aber auch die Mythen des Internet - etwa die allgemeine Zugänglichkeit von Informationen - zu entlarven.
Bookchin hat sich den Games zugewendet, weil sie in ihrer künstlerischen Arbeit nach jenen Formen der Unterhaltung im Internet Ausschau hält, denen das Massenpublikum zuspricht. Neben der Pornografie waren dies vor allem Games. "Mich interessierte, warum Leute von den Games so fasziniert sind." Auch der zählebigste Mythos des Internet - jener der Interaktivität - lasse sich an den Games vorzüglich studieren. Vor allem aber gehe es ihr um neue Formen des Erzählens, in denen nicht - wie im Film - die Identifikation mit einer Person, sondern - wie im Game - das stellvertretende Agieren eine Rolle spielt. "Ich bin sehr am Erzählerischen interessiert, denn ich glaube, dass das Erzählen von Geschichten ein höchst verführerischer Weg ist, um Menschen mit neuen Ideen zu konfrontieren. Der Film, das Kino und Video, deren lineare Erzählungen, sind ausserordentlich wirksame Verfahren der Fiktionsbildung." Sie hingegen wolle ausprobieren, ob es möglich sei, eine Erzählung zu schaffen, die zwar attraktive interaktive Elemente enthält, aber dennoch keine beliebigen Wahlmöglichkeiten bietet. Ein erste Ergebnis ist "Intruder". Pointiert gesagt, sind solche Künstler-Games das zeitgemässe Gegenstück zum Autorenfilm.
Im Grunde würde die aktivistisch orientierte Netart auf Dada-Strategien, auf Formen der frühen Avantgarde zurückgreifen, meint die theoretisch versierte Künstlerin. "Aber anders als für deren Vertreter betrachten die Netaktivisten das Museum nicht mehr als geeigneten Kontext für radikale Handlungen, die Diskussionen provozieren. Ich bin davon überzeugt, dass es auch heute noch eine Avantgarde gibt, dass Avantgarde-Praktiken noch möglich sind. Aber ich glaube nicht, dass sie noch irgend etwas mit dem Museum zu tun haben können." Eher gehe es um das Netzwerken als Kunstform, um den Versuch, alternative Gemeinschaften und Räume zu schaffen. Es gehe aber auch darum, die neuen Kommunikations- und Biotechnologien nicht kampflos deren Protagonisten zu überlassen.
Zur Avantgarde gehörte das utopische Denken. Folgt man der engagierten Argumentation von Natalie Bookchin, kommt man zu dem Schluss, dass es noch längst nicht ausgestorben ist. Den Netaktivismus oder die künstlerische Auseinandersetzung mit Games als zukunftsträchtige Kunstform wahrzunehmen, ist möglicherweise etwas gewöhnungsbedürftig. Tröstlich, dass es auch in dieser Hinsicht gewisse Parallelen zur Avantgarde gibt.


Die Website von Natalie Bookchin findet sich unter: http://calarts.edu/~bookchin

Die Ausstellung in der Shedhalle Zürich ist bis zum 6. August geöffnet - allerdings nur abends von 21 Uhr bis 23.30 Uhr. Website: www.thing.net/~tenacity