Barbara Basting

Noch kein Ulysses in Sicht

Doch Heiko Idensen, Pionier der Netzliteratur, beackert vorsorglich das Terrain



Spätestens seit Rainald Goetz' literarischem Internet-Projekt "Abfall für alle" hat sich herumgesprochen, dass das Netz für Schreibexperimente taugt. Doch gerade Goetz' "Abfall" ist keine Netzliteratur im strengen Sinne. Denn der lineare Text wurde als Buch publiziert, die zugehörige Homepage verschwand. Auch Stephen Kings Texte zum Herunterladen lassen Cyberliteraten gähnen: Zwar spielt der Bestsellerautor mit dem Internet als Vertriebssystem. Aber mit experimenteller Netzliteratur, die oft im Kollektiv entsteht, hat er deswegen nichts am Hut.
An typischer Netzliteratur wiederum ist der traditionelle Literaturbetrieb nicht interessiert. Die Namen der Autoren sagen ihm nichts, Schreibgruppen sind ohnehin suspekt. Was soll schon dabei herauskommen, wenn hemmungslos herumgesülzt wird? Dass sich genuine Hypertexte, die mit Link- und Verweissystemen arbeiten, sogar visuelle oder akustische Elemente integrieren, nicht für den Druck eignen, nährt das Desinteresse.
Dabei wäre hier jenseits von Kulturzonengrenzen eine "offene Baustelle" zu besichtigen, wie es der Zürcher Literaturwissenschaftler Beat Suter jüngst formuliert hat. Inhaltlich und formal sei vieles noch unausgegoren. "Man darf schlichtweg nicht mit dem althergebrachten Verständnis an die Sache gehen, dass mit den Hyperfictions perfekte, abgeschlossene Meisterwerke entstehen", so Suter. Portale oder Filter, die für Qualität bürgen, sind erst im Entstehen, ebenso die Qualitätskriterien. Doch der Prozess der Hybridisierung, der zunehmenden Legierung von Text, Bild, Ton im Internet, ist schon für sich genommen spannend und kulturell einschneidend.
Heiko Idensen, Literaturwissenschaftler aus Hannover, verfolgt diese Hybridisierung in Theorie und Praxis. Zu seinen Mitmach-Projekten gehört die "Imaginäre Bibliothek", ein hypertextuell strukturiertes Text-Bild-Archiv zur Buchkultur. Idensen befasst sich mit Varianten der Vernetzung und Verlinkung. In einem E-mail-Austausch erklärt er, was ihn an der Netzliteratur fesselt.
Zu einem Erweckungserlebnis verhalf ihm 1984 Jean-François Lyotards epochale Pariser Ausstellung "Les Immatériaux". Dort konnten die Besucher an Computern Texte von Philosophen weiterspinnen. "Hier ereigneten sich genau die aktiven Rezeptionsprozesse, von denen experimentelle Literaten schon immer träumten." Seitdem arbeitet er an der "Öffnung digitaler Texte zum Leser hin".
Ist Netzliteratur nicht nach wie vor eine hermetische Angelegenheit? "Die anfängliche Hoffnung, dass durch Literatur- und Kunstprojekte im Netz eine allgemeine Demokratisierung einsetzt und nebenbei auch noch Forderungen nach einer Öffnung des Kunstbegriffs erfüllt werden können, hat sich als trügerisch herausgestellt", gesteht Idensen ein.
Surft man in den Projekten herum, stellt man ernüchtert fest, dass sie wenig zur Lektüre reizen. "Zum Lesen sind die Online-Texte auch wirklich nicht gut geeignet. Es geht mir bei der Netzliteratur um Rückkopplungsmomente, Verknüpfungen, Überlagerungen." Genau deshalb arbeite er auch immer an hybriden Projekten, sprich: einer CD-Rom zu einem Tagungsband, der zusätzlich multimediale Materialien zu den Texten enthält oder komplette Web-Archive von Kunst-Projekten, die in den Texten besprochen werden. Doch die grundlegendste Hybridisierung sei jene zwischen Autor und Leser. "Das ist meines Erachtens der Bereich, der die grössten kulturellen (und ökonomischen) Auswirkungen haben wird. Spannend finde ich dabei die Experimente mit Netzradios und neuerdings die ganze MP3-Welle.
Idensen, der Anfang der 90er Jahre die "Hypertextrevolution" ausrief, musste lernen, dass auch virtuelle Textbäume nicht von selber wachsen: "Ich habe die Erfahrung gemacht, dass erst eine relativ langfristige Einübung in die Kulturtechnik des Schreibens im Netz erfolgen muss, bevor dann mit vorliegenden kollaborativen Oberflächen wirklich gearbeitet wird." Deswegen wohl musste Hermann Rotermund, Juryvorsitzender beim deutschen Internet-Literaturwettbewerb "Pegasus", mit Bedauern feststellen: "Er ist im Netz der Netze noch nicht aufgetaucht, der Online-'Ulysses'." Hinzuzufügen wäre, dass auch die Entdecker und Leser des 'Ulysses' seinerzeit selten waren.

Heiko Idensen referiert am Symposium "Mixtouren" im Rahmen der Ausstellung "Hybrid". Heute, Samstag, 17-22 Uhr, Fotomuseum Winterthur.

www.hyperdis.de (Textprojekte von Heiko Idensen)
www.dichtung-digital.de (informative Links)
Beat Suter, Hyperfiktion (Update Verlag Zürich 1999).