Barbara Basting

Alternativen zum Musentempel



In den letzten Jahren sind in Europa an mehreren Orten Zentren für neue Medien entstanden, die mit traditionellen Museen nicht mehr viel zu tun haben. Das Sammeln, Bewahren, Ausstellen ist nur noch ein Teil ihrer Aufgaben. Sie verstehen sich vor allem als Forschungs- und Produktionsstätten nach dem Vorbild des berühmten "Medialab" des MIT (Massachusetts Institute of Technology), die den Künstlern gezielt Möglichkeiten zur Arbeit mit neuen Technologien zur Verfügung stellen. Sie sorgen für ein Umfeld, in dem die Vernetzung, Diskussion und Vermittlung neuer Bildmedien, die Auseinandersetzung mit neuen visuellen Strategien eine wichtige Rolle spielt. Den Berührungsängsten zwischen Technologieentwicklung, Wirtschaft und Kunst soll der Garaus gemacht werden, das aus der Wirtschaft importierte Zauberwort heisst "Kompetenzzentrum". Das deutsche Zentrum für Kunst und Medientechnologie ZKM in Karlsruhe und das Ars Electronica Center in Linz sind Paradebeispiele, C3 in Budapest oder Mecad in Barcelona bewegen sich auf dem selben Terrain.
Die Entstehung dieser Häuser ist unter anderem eine Reaktion auf die Mankos und strukturellen Handicaps traditioneller Musentempel. Denn das aufklärerische, bürgerliche, auf Kontemplation ausgerichtete Museumsmodell lässt sich nur mühsam aus seinen Verwurzelungen im 19. Jahrhundert herauslösen. Damals war Kunst in erster Linie Malerei, Zeichnung, Skulptur, Plastik. Neue Formen der Darstellung, wie zum Beispiel die Fotografie, kamen erst ein Jahrhundert nach ihrer Entstehung unter Kunstverdacht und damit zu Museumswürden, nämlich in der weltweit ersten, 1940 begründeten Fotosammlung des Museum of Modern Art in New York.
Weil die Museen sich heute schwer damit tun, auf zeitgenössische Herausforderungen und künstlerische Experimente im Feld der neuen Medien angemessen zu reagieren, besteht die Gefahr, dass das Terrain kampflos den anwendungsorientierten, finanzstarken Wirtschaftsstrategen überlassen wird. Zwar sind die Museen heute schneller als noch am Anfang des 20. Jahrhunderts bereit, neue Kunstformen anzuerkennen. Allein, es fehlen oft die räumlichen, personellen und finanziellen Voraussetzungen. Denn es ist nicht damit getan, beispielsweise eine Videosammlung oder einen Webserver anzulegen; es muss auch über geeignete Formen der Vermittlung, der Präsentation oder über Konservierungsbedingungen nachgedacht werden.
Während in der Schweiz die grossen Häuser bisher kein systematisches Konzept der Auseinandersetzung mit den elektronischen Medien entwickelt haben, leistet das kleine Genfer "Centre pour l'image contemporaine Saint-Gervais Genève (SGG) seit 1985 (zunächst unter dem Namen Centre Saint-Gervais) Pionierarbeit auf dem immer bedeutenderen Terrain der Reflexion über "zeitgenössische Bilder". Dass es von einer breiteren Öffentlichkeit bisher kaum wahrgenommen wird, dürfte mit seiner Entstehungsgeschichte zu tun haben. Anders als die erwähnten Medialabs in Deutschland, Holland, Österreich, die zum Teil - wie das ZKM - recht brachiale kulturpolitische Setzungen sind und aus den Zukunftsbudgets der Ministerien und der Wirtschaft entsprechend alimentiert werden, agiert das aus einem Jugendzentrum hervorgegangene SGG in einem räumlich wie finanziell äusserst bescheidenen Rahmen.
Dennoch hat es sich mittlerweile international einen Namen gemacht. Seine Dynamik und Initiative werden in Künstler- und Museumskreisen geschätzt. Zu den Gründungsikonen gehört nicht von ungefähr das Video "Anthem" des amerikanischen Künstlers Bill Viola. Er schenkte es dem Centre anlässlich der ersten Genfer Videobiennale 1985 - ein Symbol für die privilegierten Beziehungen zu inzwischen arrivierten Künstlern, die das SGG schon früh knüpfen konnte. André Iten, Direktor des Centre, verzeichnet aber auch wachsendes Interesse bei einem jüngeren Publikum, das nur noch zu einem Teil aus dem "Kunstkuchen" stammt.
Vor allem die "Biennale de l'image en mouvement" (vormals "Semaine Internationale de Vidéo"), im vergangenen Herbst zum achten Mal veranstaltet, hat das SGG weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt gemacht. Der neue Name signalisiert eine Öffnung. Denn "zeitgenössische Bilder" bewegen sich nicht nur im Videoformat, sondern zunehmend auch im Bereich der Webkunst oder Künstler-CD-Rom. Geleitet wird die Biennale seit 1985 von André Iten. Seit 1993 kuratiert sie Simon Lamunière, der an der Documenta X 1997 die Internet-Kunst betreute. Auf dem Server des SGG laufen heute noch 3 Webprojekte der Documente X. Zusätzlich wurde von den Genfern in Zusammenarbeit mit der Documenta eine CD-Rom mit der gesamten Documenta-Website produziert.
André Iten und Simon Lamunière betonen im Gespräch, dass sie die üblichen Abgrenzungen zwischen den verschiedenen neuen Bildmedien für fragwürdig halten. Der jeweilige Bildträger, das Format seien allenfalls der kleinste gemeinsame Nenner der ganz unterschiedlichen Verwendungsweisen der elektronischen Medien. Ihnen geht es darum, den Blick auf die Reflexion der Möglichkeiten und Grenzen des jeweiligen Mediums zu richten, auf Inhalte. "Es gibt viele Bildproduzenten, deren Arbeit sich nur schwer einordnen lässt. Man kann sie eigentlich nur unter dem Oberbegriff des 'bewegten Bildes' einigermassen fassen. Es geht um die Art und Weise, wie Bilder hergestellt werden, wie neue Strukturen und Konstruktionsprinzipien gesucht werden ", meint Lamunière. Dieser Ansatz sei schon allein deswegen wichtig, weil die Produktion und Rezeption "bewegter Bilder" stark durch die Raster der dominierenden Massenmedien Fernsehen und Kino geprägt werde.
Das SGG teilt sich die ehemaligen Räumlichkeiten des früheren Jugendzentrums Saint-Gervais nocht mit dem "Théâtre de Saint-Gervais". Weil die Grenzen zwischen den Medien ohnehin immer stärker verfliessen, hält André Iten dies für eine Chance. Jedoch ist innerhalb der nächsten Jahre ein Umzug ins "Bâtiment d'art Contemporain", wohin auch das Centre d'art contemporain und das MAMCO verlegt werden, geplant. Derzeit findet das erste gemeinsame Ausstellungsprojekt mit dem Musée d'Art et d'Histoire und dem Kunstraum "Attitudes" statt, eine Präsentation des spanischen Künstlers Antoni Muntadas.
Zu den Spezialitäten des SGG gehört die technische Unterstützung und Beratung von Künstlern, die mit neuen Medien experimentieren. Von den acht Angestellten sind immerhin zwei vollangestellte Techniker - einer für Computer, der andere für Videogeräte.
Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Videothek, die mit nahezu tausend Titeln die umfangreichste öffentliche Sammlung von Künstlervideos in der Schweiz ist. Das hiesige Schaffen ist fast lückenlos dokumentiert, die internationale Auswahl breit. Die Videos können nach telefonischer Anmeldung vor Ort betrachtet werden.
Von Anfang an wurde grosser Wert auf die konservatorische Betreuung der alterungsanfälligen Videos gelegt. "Wir haben versucht, nicht die Fehler beispielsweise des Zürcher Kunsthauses zu machen, wo Ursula Perrucchi die Videosammlung während zwanzig Jahren quasi allein und ohne wirkliche Unterstützung seitens des Kunsthauses angelegt hat. Weil sie selber keine Technikerin ist und auch keine entsprechende Hilfe hatte, sind viele Bänder durch Alterung unwiderruflich zerstört", meint André Iten. Noch wichtiger ist den Genfern aber die Erschliessung ihres Bestandes. Mit Ausstellungen und wöchentlichen Videoprogrammen wird die Sammlung "aktiviert", wie Lamunière sich ausdrückt.
Zu den visionären Projekten des SGG gehört, neben einer vom Internet-Künstler Holger Friese hervorragend gestalteten Homepage (www.sgg.ch) mit zahlreichen kuratierten Links die "Encyclopèdie des Nouveaux Médias"(www.newmedia-arts.org/). Das SGG hat sie in Zusammenarbeit mit den Videoabteilungen des Pariser Centre Pompidou und des Museum Ludwig Köln entwickelt. Die dreisprachige Enzyklopädie wird in diesem Jahr vorläufig abgeschlossen werden. Monografische Einträge, Werklisten, Bibliografien, Videos zum Herunterladen bieten ein reiches Angebot für Recherchen und zum Stöbern, auch wenn noch ein paar Mängel zu beheben sind.
Das SGG als Ergänzung zu bestehenden Kulturinstitutionen weiter zu entwickeln, ist eines der Ziele von André Iten. In Genf geht man einen anderen Weg als an den grossen Medialabs. Während das Ars Electronica Center in Linz oder das ZKM eng mit der anwendungsorientierten Industrie zusammenarbeiten - was Kritiker ihnen regelmässig zum Vorwurf machen - operiert das SGG weitgehend unabhängig. Die Stadt Genf stellt ein mageres Budget von 1,2 Millionen Franken pro Jahr zur Verfügung; davon wird rund die Hälfte für Personalkosten gebraucht, ein weiteres Drittel für den laufenden Betrieb, die verbleibenden 15 % für Ausstellungen. Die Biennale trägt das Bundesamt für Kultur. Sponsorengelder machen nur einen kleinen Teil aus. "Für die grossen Computerfirmen ist die Schweiz und erst recht die Romandie ein kleiner Markt", erklärt Lamunière das geringe Interesse der Branche, hier Sponsorengelder einzusetzen.
Dass die Aktivitäten des Centre die üblichen Ressortgrenzen sprengen, erweist sich als Hindernis, wenn es um öffentliche Mittel geht. "Obwohl das Bundesamt für Kultur unsere Arbeit gut kennt, wäre es schön, wenn man uns etwas stärker unter die Arme griffe", meint André Iten diplomatisch. "Die Politiker unterstützen bestehende Projekte, aber gerade im immer wichtigeren Gebiet der neuen Medien entwickeln sie keine Visionen", wirft Simon Lamunière den Volksvertretern vor. Dahinter steckt wohl neben einem Kommunikations- vor allem ein Wahrnehmungsproblem: Selbst in den Kommissionen weiss noch niemand so recht, wohin die "bewegten Bilder" der Gegenwart eigentlich gehören. Sind sie Kino, Video, Kunst, wie ist ihr Verhältnis zur Fotografie? Wo die Zuordnungen noch unklar sind, operieren nicht nur Behörden aus der Not heraus mit herkömmlichen Kategorien, obwohl die künstlerische Praxis diese längst infrage stellt. Die Auseinandersetzung mit den neuen Entwicklungen braucht Zeit - und Orte wie das Centre pour l'image contemporaine, an denen sie intensiv, mit viel Enthusiasmus und profunder, langjähriger Sachkenntnis gepflegt wird.


Bis zum 19. März 2000 findet in den Räumen des SGG eine Ausstellung von Hervé Graumann statt; parallel dazu werden Videos von Antoni Muntadas im Rahmen der Ausstellung dieses Künstlers im Musée d'Art et d'Histoire und im Kunstraum "Attitudes" gezeigt.
www.centreimage.ch, Tel. 022.908.20.00, 5 rue du Temple, 1201 Genf