Barbara Basting

David gegen Goliath

Ein Besuch beim New Yorker Webprojekt "The Thing"



Mit weisser Farbe hat jemand 601 West 26 th Street auf den kornblumenblaumen Bauzaun vor dem Eingang zu einem der ehemaligen Lagerhäusern am Hudson River gepinselt. Das etwas vernachlässigte, aber elegante "Storehouse" aus den 20er Jahren wird gerade zu einem "Technology Center of Chelsea" umgebaut. Hier ziehen jene "dot.coms" ein, deren Werbung in New York omnipräsent ist und die schon ganzen Strassenzügen in Chelsea zum Übernamen "Silicon Alley" verholfen haben.
Hier hat auch das nichtkommerzielle Webprojekt "The Thing" seinen realen Raum. "The Thing" gibt es seit 1991. In der Hochgeschwindigkeits-Zone des Internet heisst das: seit Ewigkeiten. Das Büro, ein knapp 200 Quadratmeter grosses Loft, befindet sich im vierten Stock. Der schwarze Aufseher im Gang verhindert, dass aus den benachbarten Räumen Bohrmaschinen entwendet werden oder Neugierige herumschnüffeln. Hier ziehen demnächst "Networkplus" und "Harvard.net" ein, letzteres eine Tochter der derzeit (Stand: Juli 2000) mit 380 Milliarden Dollar am höchsten kapitalisierten Gesellschaft der Welt, der Computerfirma Cisco Systems.
"The Thing" hatte sich schon 1995 eingemietet, als die Nachbarschaft noch schäbiger war. Die spekulativ angeheizte "dot.com"-Hysterie hat die Mieten jüngst versiebenfacht. Wolfgang Staehle, der 1950 in Stuttgart geborene, seit seinem Studium in den 70er Jahren in New York lebende Gründervater des Medialab, macht das zu schaffen. Denn "The Thing" ist zu geradezu schwäbischer Sparsamkeit gezwungen. Anders als viele neugegründete Web-Buden verbrennt es nicht in Windeseile das Venture- oder Aktienkapital von wagemutigen Investoren im Internet-Rausch, sondern finanziert sich aus eigener Kraft.
Also kein gestyltes Büro, keine Empfangsdamen in Designklamotten, keine I-Macs - die findet der unprätentiös leger wirkende Staehle ohnehin kitschig -, die bei potentiellen Kunden Eindruck schinden müssen. Stattdessen stapeln sich gleich neben dem Eingang die Server verschiedenster Jahrgänge in Industrieregalen, hängen Kabel wie Nudeln zum Trocknen auf Gestängen, sind Teile des Mobiliars liebevoll aus Thrift-Shops zusammengetragen. Eine sympathische Mischung aus einem Künstleratelier und der Garage eines technikbegeisterten Bastlers. An den Wänden Arbeiten von Künstlern, darunter ein Print von Staehle und eine Schaltkreis-Installation des befreundeten Matthew McCaslin.
"The Thing" nimmt sich wie ein Fremdkörper im blühenden Technologieeldorado aus. Aber vielleicht bleibt dies nicht so. Staehle, der gewiefte Netzaktivist und Ermöglicher, über dessen Gesicht ein lausbübisches Lachen huscht, wenn er der Besucherin eine seiner scharfsinnigen Beobachtungen zu Netzkultur und -ökonomie mitteilt, kann sich durchaus vorstellen, dass hier gewisse Synergien entstehen könnten. Vielleicht bestehen die am Anfang nur in der Mitnutzung von Breitbandkabeln.
Auf einem der bejahrten grünen Bauhaus-Ledersessel beim Fenster liegt die "Kunstgeschichte" von Ernst Gombrich in einer älteren Bibliotheksausgabe. Staehle, der erfolgreich als Videokünstler arbeitete, bevor er sich in die Fänge des Netzes begab, und der nun auch stärker wieder eigene Arbeiten verfolgt, liest Gombrich. Ist das nicht überraschend für jemanden, der zehn Jahre seines Lebens fürs Internet gedacht und gelebt hat? "Jedesmal, wenn in der Kunst eine neue Epoche anbricht, geht auch etwas verloren. Deswegen lese ich den alten Gombrich. Das Neue muss nicht unbedingt die bessere Kunst sein. Es handelt sich eher um eine Entwicklung, bei der etwas hinzukommt und etwas verlorengeht. Ich verstehe diejenigen, die vertreten, dass jeder im Netz machen soll, was er will. Auf der anderen Seite bedaure ich schon, dass dadurch so viel Mist mitfährt." Nachdenkliche Sätze, die ein zugespitztes historisches Bewusstsein verraten.
Staehle formuliert derlei auch im Hinblick auf die Schwierigkeit, Kriterien für die neue Netzkunst zu finden. "Der Netzkünstler Vuk Cosic etwa gehört der selben Liga an wie Maurizio Cattelan. Ich würde gerne eine Ausstellung kuratieren, wo ich solche Künstler zusammenbringe, die Grenzen auflöse. Kritiker wie Hilton Kramer von der New York Times, die starke Vorbehalte gegenüber der Netzkunst hat, haben vor allem furchtbar Angst, dass der Kontext verlorengeht, dass die Kontrolle, die kritische Instanz verschwindet. Heute kann jeder seine Homepage zusammenbasteln, Trash reinhängen. Wer bewertet, wo sind die Kritieren, was ist Qualität, wo ist der Diskurs, was ist da eigentlich los?", skizziert Staehle die Situation. Jedenfalls ist klar, dass er sich aufgrund seiner langjährigen Erfahrungen mit dem Medium Internet kein X für ein U vormachen lässt. Eine gewisse entspannte Distanz unterscheidet ihn, auch wenn sie vielleicht ein wenig stilisiert sein mag, von Freaks, die ausserhalb des Netzes kein Heil mehr sehen.


Vor zehn Jahren war das Internet zwar längst für wissenschaftliche und militärische Zwecke im Gebrauch. Doch erst die Öffnung zum "world wide web" 1995 rückte es ins öffentliche Bewusstsein. Dass Wolfgang Staehle The Thing 1991 gründete, reiht ihn unter die Pioniere. Zwar kam er zum Internet nicht wie die Jungfrau zum Kinde. Aber es brauchte doch ein gehöriges Quäntchen Neugierde, um als Videokünstler dieses Terrain zu erobern.
"Die Geschichte von The Thing steht dahinten im Eck". Der Cyberworker weist schmunzelnd auf einen alten Amiga 2000. "Das war damals eine sehr gute Maschine, den PCs und Macs weit voraus in bezug auf Grafik, Video, Sound. Ich habe viel mit Video gearbeitet und mir so ein Ding gekauft, um damit herumzuspielen. Im Sommer 1991 habe ich im hiesigen Amiga-Geschäft ein Modem entdeckt, 2400 Kilobits" - heute sind 56000 Kilobits oder mehr die Norm - "habe mir das gekauft, geschaut, was gibt's da, habe von Compuserve gehört und auch vom BBS-Untergrund."
Natürlich sah es im Internet damals völlig anders aus als heute. Nicht ohne Emphase berichtet der Künstler von seinen ersten Gehversuchen in der mythenumwobenen frühen "Netzcommunity". "Damals gab es schon das Fidonetz, auch in Europa. Die Leute benutzten das BBS - bulletin board system -, also ein Mailboxsystem. Es gab auch erste Mailboxbetreiber. Man hat sich eingeloggt, Dateien rauf- und runtergeladen. Als Betreiber konnte man Berechtigungen vergeben, verschiedene Foren eröffnen, sehen, wer online ist, die Leute anpagen, chatten. Es gab sogar schon eine primitive Grafik."
Staehle loggte sich ein, lud Shareware-Programme herunter. "Wenn ich etwas nicht wusste, habe ich den Systemadministrator angemailt. Ich bekam immer eine freundliche, informative Antwort. Das fand ich erfrischend, denn in der Kunstwelt war alles so tight, gerade in den späten 80er und frühen 90er Jahren, als der Markt runterging, alle mit ihrer Karriere beschäftigt waren und jeder Informationen gehortet hat. Information war so eine Art Currency", erinnert er sich Staehle, dessen verschliffenes Schwäbisch mit amerikanischen Wendungen gesprenkelt ist. "Ich habe mich immer gefragt: Warum nehmen die sich Zeit, so ausführlich Antwort auf meine Fragen zu geben, ich zahle doch nichts dafür. Und sie haben in Cyberpunkmanier - information wants to be free - gesagt: So habe ich es auch gelernt, so funktioniert die early gift community."
In den frühen Bulletin Boards ging es um Software-Bastelanleitungen und den Austausch von technischem Know-How. "Weil in der Kunst institutionelle Kritik damals gerade ein wichtiges Thema war, hatte ich plötzlich die Idee, dass es sinnvoll wäre, wenn diese Kritik nicht immer innerhalb der Institutionen stattfände, die kritisiert wurden. Also habe ich mit meinen Amateurkenntnissen versucht, ein Bulletin Board aufzubauen. Es fing an mit einer Handvoll Freunden, Künstlern und Kritikern, die auch so eine Kiste hatten. Wir haben einen virtuellen Club aufgemacht, in dem wir über Kunst und technische Probleme geredet haben." Das war der Anfang von "The Thing."

"Campin, you long to see the great pyramids in Egypt." "Campin, you radiate goodness." Mit solch mysteriösen Worten werde ich als Userin - mein Passwort heisst Campin - begrüsst, wenn ich mich bei www.thing.net einlogge: Sprüche, wie sie auf den Papieren der Fortune-Cookies aus China-Restaurants stehen. Das ist einer der wenigen Gigs und Gags auf der Thing-Seite. Ein Relikt aus der Unix-Software-Phase ist die Rubrik, in der man sieht, wer gerade online ist und die Person direkt anchatten kann.
Neben der Rubrik "Review" - hier plaziert Staehle ausgewählte Originalbeiträge aus der Medienkulturszene - finden sich die Kategorien "projects", "audio", "video", "radar" - Hinweise auf Aktualitäten - sowie "sites", wo die Domainnamen der unter "The Thing" laufenden Homepages, darunter viele von Künstlern, aufgelistet sind.
Die Thing-Site wirkt trotz ihres Redesigns 1997 zwar sehr schlicht und funktional, aber auch ein wenig altmodisch.
Staehle weiss, dass eine optische Auffrischung nicht schaden würde. Die Zeit und die nötigen Finanzen fehlen. Doch es sind nicht nur die fehlenden Mittel, es steckt auch ein gutes Quantum kantiger Verweigerung in der aktuellen Erscheinung. Der Bezug zur eigenen Entstehungsgeschichte, zur eigenen Ideologie, die eben weniger mit Oberflächenglamour als mit engagierten Inhalten und Diskussionen zu tun hat, wird darin sichtbar.
"Wir sind nicht greifbar, weil wir eigentlich nur eine Plattform sind", meint Staehle zufrieden. "Es steckt eine bestimmte Philosophie dahinter, die für Aussenstehende nicht so leicht greifbar ist. Sie kommt aus der Netztradition heraus. Wir verteidigen unsere Identität gegenüber dieser Kommerzlawine, die alles plattwalzt ", erklärt Staehle die fast schon an Guerillataktiken erinnernde Strategie. Die Homepage ist auch der Treffpunkt einer Gemeinde, zu deren Klerikern Staehle gehört. Nicht jeder Novize soll gleich auf den ersten Blick alles kapieren oder gar kopieren.
Diese Sprödigkeit verhindert auch, dass sich das Projekt nahtlos in den Kunstkontext einfügt. Das Netz war in seinen Anfängen ein Medium des Wortes, wurde als Kommunikationskanal exploriert. Damals hat sich ein Partisanengeist ausgebildet, der nicht totzuschlagen ist, selbst wenn die Flut der Bilder im Netz und die kommerzielle Entwicklung diesen Eindruck heute verschleiert.
Gerade die spannendsten aktuellen Entwicklungen im Netz haben mehr mit kritischer Diskussion, mit der Mobilisierung einer möglichst grossen Zahl von Netzbenutzern als mit schönem Design zu tun. Der bisher spektakulärste Fall - der von der "Netzgemeinde" gestütze Kampf der Künstlergruppe etoy gegen den kalifornischen Online-Spielzeughändler Etoys um die Webadresse im vergangenen Herbst - ist dafür ebenso ein Beispiel wie die aktuelle Diskussion um die Vergabe der Lizenzen für Domain-Namen durch ICANN oder um den Musik-Server Napster.
Die frühen Netz-Utopien von der offenen Kommunikation, von einer neuen Demokratie im Netz sei, so Staehle, keineswegs verflogen. "Mittlerweile geht's doch nur noch darum. Auf der einen Seite werden die Grossen wie Ebay, AOL, Bertelsmann sich konsolidieren, die an mehr Kontrolle und Kommerz interessiert sind. Auf der einen Seite werden sich Dinge wie Freenet, Gnutella, Napster weiterentwickeln. Das lässt sich auch durch Gerichtsurteile nicht stoppen. Freenet oder Napster haben Millionen von Usern, die kann man nicht plötzlich alle kriminalisieren." "The Thing" hat in der epochalen etoy-Kampagne eine zentrale Rolle gespielt, nicht zuletzt, weil die etoy-Seite, die auf ihrem normalen Server abgestellt worden war, unter "www.toywar.com" auf dem Thing-Server lief.
Ähnlich wie der in diesem Sommer heiss diskutierte Fall von "Napster" macht der Fall etoy klar, dass Branding - das Prägen und Etablieren von Markennamen - sowie die Copyright-Entwicklung im Netz zu den Kernfragen gehört. Sie sind gerade erst andiskutiert worden, übrigens unter reger Beteiligung der Net-Community auf Mailing-Listen wie der von Pit Schultz betreuten "Nettime". Auch diese Seite läuft, wen wundert's, auf dem Thing-Server. Staehle hat in Copyrightdingen eine klare Meinung, die sich auch auf Kunst bezieht: "Wenn ich etwas aufs Netz lege, ist das Mindshare, symbolisches Kapital, mit dem ich Aufmerksamkeit erwecke. Da muss ich nicht gleich Geld verdienen mit. Wenn ich von etwas leben will, muss ich etwas produzieren, was ich verkaufen kann." Er glaubt beispielweise nicht, dass Netzkunst sich für die Kommerzialisierung eignet. Darin trifft er sich mit anderen Exponenten der Szene: "Netzkunst mag einige Bewegung im Netz auslösen, aber es gelingt ihr nicht, einen Einkommensfluss zu generieren", stellte der Medientheoretiker Timothey Druckrey 1998 fest.
Ohnehin ist das Anliegen dieser Kunst auch ein genuin anderes: Es geht eher um die Mobilisierung einer spezifischen Aufmerksamkeit zu tun. Selbst "The Thing" ist inzwischen ein Label, und seinem Gründer ist das bewusst. Die erste Site von "The Thing" wollte er im Herbst 1999 sogar bei einer Online-Aktion zugunsten des Projekts versteigern. Es kam nicht dazu, weil die Gebote nicht den erwarteten Betrag erreichten. In einem Interview mit Tilman Baumgärtel (www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/sa/3372/1.html) gab Staehle an, dass er habe testen wollen, "ob die Kunstszene schon bereit ist für eCommerce." Das offenbart neben seiner spielerischen Ader auch das Problem der Selbstausbeutung und Gratisarbeit, die Netzpioniere wie er geleistet haben und deren Früchte andere zu ernten versuchen. Mit seiner Verärgerung darüber hält Staehle nicht hinterm Berg.


Schaut man sich die umfangreiche und spannende "Project History" von The Thing seit November 1991 an, fällt auf, dass schon bald, nämlich 1992, die ersten Netzkunstwerke auf dessen Seite liefen. Benjamin Weill, ein weiterer Aktivist der ersten Stunde und seit kurzem Netzkunstkurator am MoMA von San Francisco, kuratierte online die Gruppenausstellung "Manifesto" mit digitalen Reproduktionen; Teilnehmer waren heute international bekannte Kunstschaffende wie Gavin Brown, Angela Bulloch, Sylvie Fleury, Dominique Gonzalez-Foerster.
Die Öffnung vom reinen Diskussionsforum zur Kunst, die aus dem Videokünstler Staehle nicht nur einen Moderator, sondern einen Kurator machte, hatte mit der Unzufriedenheit der Künstler mit den frühen Mailforen zu tun. "Es wurden die ersten Projekte eingereicht, so 'Basic English, Basic Japanese' des Konzeptkünstlers Rainer Ganahl. Mariko Mori kam in den Keller in der White Street und sang zu einer Karaoke-CD, wir mischten das direkt mit dem Computer ab, nach zwei Aufnahmen waren wir mit dem Resultat zufrieden und hängten es ins Netz. Bald darauf schlug Peter Halley eine Computerbild vor, das wir dann auf Vertrauensbasis für 20 Dollar zu verkaufen versuchten. Immerhin haben von ungefähr 200 BBS-Mitgliedern 16 die Datei 'halley.gif' gekauft", erinnert sich Staehle.
Der Bruch mit dem ursprünglichen Konzept, der Schritt zur Kunst war in der Community nicht unumstritten. Es gab heftige Diskussionen. "Viele Leute, die zu dieser Zeit eingestiegen sind, kamen aus dem Medienkontext und sind anders an die Sache herangegangen. Doch ich habe gerne mit Leuten aus dem traditionellen Kunstbereich zusammengearbeitet. Mir war es immer wichtig, dass es eine Art Schaltstelle zwischen beiden Bereichen gibt, eine Brücke zwischen beiden Lagern, die einander enorm misstrauisch beobachten." Im Laufe der Jahre kam so jene erkleckliche Liste zusammen, auf der unter anderem John Baldessari, Vanessa Beecroft, Martin Kippenberger, Mariko Mori, Beat Streuli, Daniel Pflumm figurieren. Auch einige der bekanntesten Netzkunstwerke, "Graphic Jam" von Mark Napier (1999) oder Vuk Cosics "History of Moving Images" (1998) sind im Thing-Archiv zu finden.
Mindestens so wichtig, wenn auch schwieriger zu rekapitulieren ist die lange und umfangreiche Geschichte als "Host", also Gastserver, und teilweise auch als Archiv von internationalen Online-Ausstellungen, Diskussionen, Symposien mit Künstlern, Kuratoren, Theoretikern, Web-Aktivisten. Das beginnt mit der Online-Video-Show "Pain" (1994) und reicht bis zur jüngsten Medienkunst-Ausstellung in der Zürcher Shedhalle, "Widerspenstige Praktiken".

"Ohne Moos nix los", diese flapsig formulierte Binsenweisheit kommt Staehle immerhin noch mit sarkastischem Grinsen von den Lippen. Um unabhängig zu bleiben, fährt er weiterhin eine Low-Budget-Strategie. Dahinter steckt die felsenfeste Überzeugung, dass diese Unabhängigkeit viel wert ist in einer Welt, in der der Sog des Kommerziellen bald alles erfasst. Unverhohlen äussert der Webpionier seine Verachtung gegenüber manchen "dot.coms", die jetzt, wo der Zug bald abgefahren ist, mit Pauken, Trompeten und viel Börsengeld ihre Claims besetzen und "siebzig Leute anstellen, um eine Website zu designen".
Einen grossen Teil seiner Einnahmen bestreitet "The Thing" aus seiner Tätigkeit als Provider. Aber auf Dauer, das sieht auch Staehle ein, kann es mit der Fast-Gratisarbeit nicht weitergehen. Mit Programmiertätigkeiten Geld zu verdienen, schloss er bisher eher aus. Doch neben der nichtkommerziellen Sektion, die steuerrechtliche Privilegien geniesst und für die es immerhin schon ein paar kleinere Auszeichnungen und Stipendien - darunter solche vom "National Endowment for the Arts" - gab, führt Staehle neu auch eine Designabteilung, "Crackdesign". Sie wird vom frei mitarbeitenden russischen Künstler Vladimir Muzhesky betreut.
In eine neue Richtung geht Staehle mit seinem Team, zu dem 6 Mitarbeiter gehören, indem er jüngst einen einträglichen Consulting-Auftrag von einer Versicherungsgesellschaft angenommen hat. "Wir haben gerade im Bereich Kommunikationsarchitektur das nötige Know-how." Staehle stammt aus einer Generation, die derlei noch als mentale Übung rechtfertigt: "Es zwingt einen dazu, sich hautnah mit dem Medium auseinanderzusetzen, ist eine Art 'reality check'. Man muss streng auf die Bedürfnisse des Kunden hin arbeiten. Die dadurch gewonnen Erkenntnisse und Fähigkeiten fliessen wieder in die künstlerische Arbeit ein."
Der Medientheoretiker Peter Lunenfeld bemerkte zu dem Thema in einem Interview mit einem anderen Pionier der Szene, Geert Lovink: "Kunst und Wirtschaft waren und sind symbiotisch, selbst zu Zeiten, wo man sie für miteinander unvereinbar oder entgegengesetzt hielt, also sehe ich keinen Grund, warum eine Netzwerkökonomie nicht Netzwerkkunst hervorbringen sollte." Das Interview ist zugänglich in der Thing-Rubrik "Review".

Vladimir Muzhesky, 1972 in Kiev geboren, ist die leibhaftige Verkörperung des vielbeschworenen Netznomaden. In Kiev gründete er nach dem Studium der theoretischen Linguistik mit Freunden ein unabhängiges Medialab. Als den jungen Medienforschern die Mittel ausgingen, ging er nach Kalifornien und landete in der militärischen Roboterforschung. Ähnlich wie manche Kollegen begann er mit den Simulationstechnologien zu experimentieren, sie künstlerisch auszuloten. 1997 zog er, nach einem Stipendienjahr in holländischen Medieninstituten, nach New York. In Amsterdam war er mit führenden Aktivisten wie Geert Lovink und Hakim Bey (alias für Peter Wilson) in Kontakt gekommen, die ihm Staehles Adresse empfahlen. "Er stellte mich als Art director ein. Wir teilen uns das Geld, das ich mit Webdesign und Consulting verdiene. Wolfgang und ich verstehen uns in vielen Bereichen sehr gut. Aber wir kommen aus ganz unterschiedlichen Kontexten und Generationen." Seit einem Jahr diskutierten sie ein Redesign der Thing-Seite. "Wenn die Mittel vorhanden sind, packen wir es an. Die Sektion "Crackdesign" trägt schon die ganz andere Handschrift von Muzhesky, einem brillanten Kopf, der selber der Künstlergruppe "Basicray" angehört und dort seine eigenen Forschungen über virtuelle Räume weiterführt.
Muzhesky analysiert die strukturellen Schwierigkeiten von "The Thing" glasklar als klassisches Problem eines Projektes, das in die Jahre kommt. "Ein solches Projekt bietet einen Rahmen, eine potentielle Umgebung für Entwicklungen. Es unterstützt Künstler dabei, ihre Projekte auf dem Web zu zeigen. Wenn solche Projekte grösser werden als der Rahmen, kann das die gesamte Struktur verändern. Wolfgang und seine Mitarbeiterin Gisela Ehrenfried hatten vor einem Jahr Bedenken, dass manche Projekte den Rahmen sprengen. Nun sind sie offener, und in der näheren Zukunft werden sie entweder untergehen oder eine Art Wiedergeburt erleben."
Er selber hält es für völlig selbstverständlich, seine künstlerische Arbeit durch Kundenaufträge und durch seine Lehrtätigkeit zu subventionieren. "Das muss man heute so machen, denn wenn man sich die künstlerische Arbeit durch irgend jemanden vorfinanzieren lässt, ist man von vornherein eingeschränkt. Erst wenn man den eigenen Weg gefunden hat, ist derlei weniger heikel." Solche Aussagen sind symptomatisch für eine Generation, die deutlich weniger Berührungsängste gegenüber der ökonomischen Basis hat als die 68er.


"The Thing" ist nicht das einzige Medialab geblieben. Zum einen gibt es die Mitte der 90er von Spiessgenossen Staehles gegründeten Ableger in Wien, Berlin, Frankfurt, Amsterdam. Zu ihnen gehört auch das von Barbara Strebel in Basel aufgebaute "Swiss Thing". Es ist heute stillgelegt, doch das daraus hervorgegangene Projekt "Xcult" von Strebels ehemaligen Mitstreiter Reinhard Storz floriert. Berlin, Wien, Amsterdam sind noch aktiv, haben sich aber zum Teil in andere Richtungen entwickelt. Dem Wiener "Thing" ist mit der "Netbase t0" scharfe Konkurrenz erwachsen. Staehle kontrolliert die Filialen nicht. "Die können machen, was sie wollen", erklärt er nonchalant.
Auf den ersten Blick vergleichbar scheint das intelligent aufbereitete Medienkunstarchiv "Rhizome", das der Amerikaner Mark Tribe nach einem Berlinaufenthalt 1995, wo er mit der Netzszene in Berührung kam, aufzubauen begann. Der von Alex Galloway betreute "Rhizome-Newsletter" gehört derzeit zu den besten Informationsquellen über aktuelle Netzkultur. Anders als "The Thing" ist Rhizome aber kein Medialab, produziert keine Kunst. Die finanzielle Situation des Projekts hat sich eben so sprunghaft verbessert wie die Zahl der monatlichen Hits, die sich in kürzester Zeit verdoppelt hat und nun bei rund 600.000 im Monat liegt. Das berichtet Entwicklungschefin und Fundraiserin Mary Beth Smalley, vorher am Guggenheim tätig, stolz bei meinem Besuch im Loft-Büro in Soho, das "Rhizome" sich mit "eyebeam", einem weiteren neuen Projekt, teilt. Auch "The Thing" kommt auf rund 600.000 Hits pro Monat.
Es gab, berichtet Wolfgang Staehle, sogar Pläne zum Zusammenschluss mit "Rhizome". Gescheitert sei dies an einer gewissen Rivalität, aber auch den "unterschiedlichen Kulturen. 'Rhizome' ist sehr amerikanisch. Sie kultivieren eine gewisse Technologie-Euphorie. Diesen Mediahype finde ich total ärgerlich."
Ist Rhizome der Stachel im Fleische von "The Thing"? "Sie haben ein unheimlich gutes Fundraising, verfügen über das Zehnfache unseres Budgets", bemerkt Staehle anerkennend. Doch das habe auch Kehrseiten: "Man begibt sich wieder in einen institutionellen Rahmen mit all seinen Zwängen und Auflagen. Rhizome wächst schneller, ist besser finanziert - aber gleichzeitig will ein bestimmter Typus Künstler damit nichts zu tun haben. Eine freie Plattform zu fahren, ist romantischer, als sich zu sehr in diese Sponsorship-Abhängigkeiten hineinzubegeben. Ich spreche da als Künstler."
Vladimir Muszeshky beleuchtet die latente Rhizome-Thing-Konkurrenz noch von einer anderen Seite. "Die Firma Absolut Wodka verlieh 'Rhizome' jüngst einen Preis von 50.000 Dollar für Verdienste um die neuen Medien. Doch tatsächlich entwickelt 'Rhizome' vor allem eine grosse User-Basis. Das macht das Projekt sehr attraktiv für kommerzielle Zwecke und Werbung. Während 'The Thing' eher Künstler und Kunstwerke miteinander vernetzt, peilt Rhizome das breitere Publikum an. "The Thing" ist eher der Treffpunkt für die Kunstszene."

Die private New Yorker "DIA Foundation", die für ihre Langzeitprojekte mit Künstlern wie Walter de Maria oder Donald Judd bekannt geworden ist, gehört weltweit zu den ersten Institutionen, die eigene Webkunstwerke in Auftrag gegeben haben. Ausserdem beherbergt DIA inzwischen den Server eines frühen Netzkunstprojekts, "stadiumweb". Im Gespräch mit der Kuratorin Lynn Cooke und der Produzentin Sara Tucker, die die Arbeiten in enger Zusammenarbeit mit den Künstlern entwickelt, wird ein ganz anderer Ansatz der künstlerischen Netzarbeit gegenüber sichtbar als bei "The Thing." DIA lädt seit 1995 Kunstschaffende ein, sich Arbeiten fürs Netz auszudenken, berät sie in technischen Fragen, stellt das nötige Programmierwissen zur Verfügung. "Die Idee ist, Werke zu ermöglichen, die sonst auf dem Web keinen Platz fänden. Denn die genuinen Netzkünstler, die aus der aktivistischen Szene kommen, finden ohnehin Wege, ihre Arbeiten zu plazieren", erklärt Sara Tucker die DIA-Strategie. Kuratorin Lynn Cooke, die nie einen Computer mit Webkunst in ihre Ausstellungsräume stellen würde, weist darauf hin, dass ihr Webkunst-Programm jenen Prinzipien folge, die die Foundation auch ihrem Ausstellungsprogramm zugrunde legt: längerfristige Zusammenarbeit mit einzelnen, ausgewählten Künstlern, auch solchen, die von sich aus nicht unbedingt auf die Idee kämen, Webkunst zu machen. "Egal, welches Medium man nimmt, es kommt darauf an, was damit gemacht wird, nicht, wer die besten Anwenderkenntnisse hat. Oft sprengen gerade Künstler, die die technischen Voraussetzungen eines Mediums nicht genau kennen, dessen Grenzen." Die interessantesten Entwicklungen im Webkontext sieht Lynn Cooke darin, wie die unterschiedlichen Institutionen ihre Webprogramme in Absetzung voneinander entwickeln und sich so profilieren werden.

Staehle belächelt Bemühungen wie jene von DIA fast ein wenig. "Manche Künstler haben keine Ahnung vom Netzkontext, in den sie sich begeben. Sie machen halt dies und jenes, setzen sich mit dem Medium aber gar nicht richtig auseinander. Die Institutionen und Kuratoren nobilitieren sich, indem sie renommierte Künstler für Webprojekte einladen."
Die Zukunft von "The Thing" sieht Staehle, dessen Vorbehalte Institutionen gegenüber tief wurzeln, derzeit in der Weiterentwicklung eines autonomen Netzes. "Auf der einen Seite gibt es die Kommerzialisierung und jeden Tag eine neues Internetgesetz. Das sind Vorwände, um ganz andere Dinge durchzudrücken. Daher wollen wir das kleine C-Netz, das wir derzeit haben, aufbauen. Wir arbeiten bewusst an der Infrastruktur." "The Thing", über das Staehle schon ein Buch schreiben wollte, als sei es ein abgeschlossenes Kapitel seines Lebens, scheint seinen Gründer allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz - "Ich werde diesen Server nicht bis in alle Ewigkeit betreiben" - nicht so schnell loszulassen. Einen gewichtigen Grund dafür nennt Staehle im Gespräch mit der Siegesgewissheit eines David im Kampf gegen Goliath: "Der Diskurs ist bei uns."

Links der erwähnten Institutionen/Netzprojekte THE THING

THE THING http://bbs.thing.net

thing.net communications: LLC (ISP): http://www.thing.net

und ab 1. September 2000 auch unter http://isp.thing.net

www.rhizome.org
www.diacenter.org (DIA Center for the Arts)
www.sfmoma.org (San Francisco MoMA)
www.t0.or.at
www.xcult.org
www.nettime.org


barbara.basting@bluewin.ch