Barbara Basting

Kunst als Schmiermittel der Verständigung

Die grosse Ausstellung «Berlin-Moskau 1950-2000» im Berliner Martin-Gropius-Bau ist ein kulturpolitisches Fanal, das einen neuen Blick auf die Ostkunst anstrebt.


«Kunst ist Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln», diese Parole fällt den Besucher gleich im Foyer des Martin-Gropius-Baus an. Sie könnte zutreffender nicht sein. Die von viel kulturpolitischem Tamtam begleitete, finanziell bestens gepolsterte Schau «Berlin-Moskau 1950- 2000» kündet vom entschiedenen Willen zu einem nicht nur ästhetischen Blickwechsel. Zunächst schliesst die von einem deutsch-russischen Team erarbeitete Ausstellung an die erfolgreiche Vorgängerschau «Moskau-Berlin 1900-1950» von 1996 an. Diese wiederum kopierte den legendären Prototyp der kulturgeschichtlichen Schau «Paris-Moscou», mit der Pontus Hultén 1979 dem neuen Pariser Centre Pompidou zu Sofortglanz verhalf.

Knirschgeräusche im Kuratorenteam
Aber bei der ersten Schau von 1996 war alles Russische noch exotischer im Westen. Zudem konnte man sich damals mit historischem Sicherheitsabstand über eine Epoche beugen, in der es zwischen den beiden Städten zumindest anfänglich noch wirklichen Austausch statt Isolation und Blockdenken wie im Kalten Krieg gab. Diesmal richtet man den Fokus nur auf die Kunst. Das eiskalte Neon-Monument von Gerhard Merz im Lichthof des Gropius-Baus, das mit seinem Titel «Sieg der Sonne» ironisch Kasimir Malewitschs Bühnenentwürfe für das Theaterstück «Sieg über die Sonne» von 1913 aufgreift, wiederholt und demontiert das Pathos vergangener Kunstutopien. Im Zeitalter des Pluralismus ist die Kunst die Spielwiese der Interpretationen. Daher war es wohl einfacher, sich auf diesem Soft-Terrain auf gemeinsame Themen zu einigen.
Dennoch hat es geknirscht zwischen den Kuratorenteams (Leitung Pawel Choroschilow respektive Jürgen Harten). Und die Schau wird in der Moskauer Tretjakow-Galerie anders aussehen als in Berlin, kündigt der stellvertretende russische Kulturminister Choroschilow fast drohend an; man werde manches stärker in einen Kontext einbetten. Oder ausbetten: Etwa Jeff Walls Fotoarbeit, die eine Schlachtszene vom russischen Afghanistanfeldzug 1986 nachstellt, nicht nach Moskau reisen wird. So viel zu Kunst und Kontext, Aussen- und Innenpolitik.
Aus dem rhetorisch-diplomatischen Weihrauchfass, das an der Eröffnungspressekonferenz heftig geschwenkt wird, wabern die Schlagwörter. Der Wind in der Bundesrepublik weht derzeit so heftig gen Osten wie in der Anfangszeit der Europäischen Gemeinschaft gen Westen. Das ist aus realpolitischen Gründen sehr nachvollziehbar. Nur haftet dem Ganzen zugleich ein ziemlich gespenstisches Pathos an, das die Wunden, die man sich gegenseitig zugefügt hat, etwas flott zukleistert.

Die «verspäteten Metropolen»
Von einer «Aufholjagd der verspäteten Metropolen» ist da die Rede, vom «Wiedereintritt Berlins und Moskaus in den Kreis der europäischen Metropolen», aber diesmal «ohne Mission». Man will «andocken an das Beziehungsgeflecht derVorkriegszeit», mit der «trennenden undgemeinsamen Geschichte umgehen». Europa sei ohne Integration der russischen Föderation nicht denkbar. Am Ende sollen «die Kunstwerke sprechen».
Das tun sie in grosser Zahl und durchaus beredt, aber auch ziemlich dissonant. Rund 500 Werke von 180 Künstlern sind über 40 Räume verteilt. Berücksichtigt man die noch in der Berliner Nationalgalerie laufende Ausstellung zur «Kunst in der DDR» (TA vom 19. 8. 2003) sowie die eben in Frankfurt eröffnete zur «Traumfabrik Kommunismus», markiert die derzeit in Deutschland sichtbare Ostkunst-Auslage eine entscheidende Station in der neuen Auseinandersetzung mit Kunst in den beiden ehemaligen Blöcken. Die Frage nach Gebrauch und Missbrauch der Kunst in Kommunismus und Kapitalismus, aber auch nach ihrem Emanzipationspotenzial darf man, das ist die klarste Botschaft, ab sofort nicht mehr nur aus der Westkunst-Perspektive beantworten. Die bisher vorherrschende Lesart der westlichen Moderne hatte blinde Flecken: «Lange Zeit hat man sich nicht bewusst gemacht, wie sehr die Klassische Moderne eine Moderne des Westens ist; eine Kunst, die die kapitalistischen Beziehungen zwischen Menschen und Dingen reflektierte. Doch dies ist nur eine Moderne. Die sowjetische Moderne hat ihre Sprache auf der Basis der Einigkeit anstatt der Distanz erarbeitet», so Ekaterina Degot im Katalog.
Die Ausstellung, zu der auch eine hervorragende Fotochronik gehört, die allerdings das allzu Negative, etwa den Gulag, systematisch ausspart, ist ein thematisch gegliederter Rundgang durch die Jahrzehnte mit Beispielen aus Ost und West und vielen Entdeckungen. Die Zusammenstellungen sind mal plakativ, mal feiner, mal bizarr, mal schlüssiger. Eine provokatives Echo auf die ehemaligen Blöcke ist etwa der Raum, in dem die östlichen und westlichen Erhabenheitsgesten der Nachkriegszeit einem Crash-Test unterzogen werden. Da wird Barnett Newmans monumentales «Who's Afraid of Red, Yellow and Blue IV», eine Ikone des Abstrakten Expressionismus und der (Westberliner) Nationalgalerie, mit einem 1945 entstandenen sozrealistischen Heldenbild von Fjodor Bogorodski konfrontiert. Damit nicht genug: Daneben hängt die Ironisierung der Attitüde des Abstrakten Expressionismus durch Mark Tansey und des sozialistischen Realismus durch Komar/Melamid. Theoretisch ist das vielleicht zu verteidigen, optisch ist es ein Brutalismus. Die Macher huldigen spürbar dem subjektiven Blick von heute (und vom heutigen Markt) aus. Die geringe Zahl von Künstlerinnen fällt auf, die Dominanz der Malerei; überhaupt ist die Auswahl oft kaum nachvollziehbar. Gut verfolgen lässt sich, wie sich in der inoffiziellen Sowjetkunst allmählich Türchen Richtung Westen geöffnet haben. Auch sieht man umfassender, aus welchem Kontext sich die im Westen so einflussreichen Ostemigranten wie Gerhard Richter, Baselitz, A. R. Penck herausschälten und wie durchlässig die Fronten unterirdisch waren. Die Auswahl der deutschen Positionen - Beuys und seine Schüler etwa - unterstreicht, dass man weniger die Städte Berlin und Moskau als die Blöcke meint. An den russischen Werken lässt sich ablesen, dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sich vorerst vor allem in schrillen Gesten äussert.
Auf den Punkt bringen lässt sich die vielschichtige Schau kaum. Die Bilder allein vermitteln zu wenig Rezeptionskontexte. Besser tut dies der Katalog mit einer umfassenden Chronik sowie lesenswerten Beiträgen aus beiden Gravitationszentren. Er ist ein Grundstein für den künftigen Diskurs über europäische Kunst und Kultur jenseits der ehemaligen Blöcke.

Martin-Gropius-Bau, Berlin. Bis 5. Januar 2004. Im Frühjahr 2004 in Moskau. Katalog: Nicolai-Verlag, in der
Ausstellung 30 Euro. Am 1. 11. sendet 3sat Filme zu Russland aus den Räumen der Ausstellung.
www.berlin-moskau.net

Text erschienen in: Tages-Anzeiger Zürich, 2003-10-03; Seite 63