Barbara Basting

Im Bilderlabyrinth unserer Gesellschaft

Was ist Wahrheit, und was haben Bilder mit ihr zu tun? Das fragt Turner-Preisträger Wolfgang Tillmans in seiner grossartigen Ausstellung in der Kestnergesellschaft Hannover.


Ein junger Mann sitzt im dämmrigen Gegenlicht vor einem Fenster. Er schaut, ein moderner Denker, in den leeren Büroraum hinein, in dem nur ein paar Papierfetzen liegen. Er schaut - denn wir stehen vor einer Fotografie - in unsere Richtung. Nicht weiter spektakulär. Dreht man sich aber zum Weitergehen um, sieht man an der Säule gegenüber eine weitere Fotografie. Sie zeigt das Stillleben eines chaotischen Zeitungsstapels, wie er vorkommt in schriftgläubigen Haushalten.
 Zur Seite gelegte Zeitungen: Sie sind Chiffre für die Hoffnung, aus dem Fluss der Nachrichten und Kommentare doch noch einmal, und sei es nur für kurze Zeit, Klarheit zu destillieren. Im durch die Installation inszenierten imaginären Dialog zwischen den beiden Fotografien blitzt das heutige Bild des  Melancholikers auf: Verzweifelt versucht er sich ein Weltbild zusammenzusetzen - und wird mit jedem Puzzleteil, das er findet, nur in der Gewissheit bestärkt, dass ein Ganzes sich daraus nicht mehr fügen lassen wird.
Das Bilderpaar findet sich, eher unauffällig, aber sicher nicht zufällig platziert, in Wolfgang Tillmans glänzender Ausstellung in der Kestnergesellschaft Hannover. Nur zwei grosse Säle bespielt er. Aber mit welcher Intensität! Denn der beschriebene Bilder-Dialog bleibt kein Einzelfall. Und, wie um die Spannung in diesem Pingpong noch zu steigern, hat Veit Görner, Leiter der Kestnergesellschaft, Tillmans im Erdgeschoss die ätzenden Zeichnungscluster und Videos des Amerikaners Raymond Pettibon gegenübergestellt: ein Panoptikum der heutigen Weltverdunkelung, made in USA. Ausstellungen, die so vor innerer Spannung und Aktualität vibrieren, sieht man selten.

 Neue Suche nach Systematik

  «Truth Study Center», Zentrum für Wahrheitsforschung, hiess ein schon 2005 erschienenes Buch des deutschen Künstlers Wolfgang Tillmans (Jahrgang 1968). Ende der Neunzigerjahre erreichte er mit Fotografien aus seiner unmittelbaren Umgebung Szene-Kultstatus. Niemand ausser vielleicht Rainald Goetz in seinen Texten brachte das aufgeputschte Lebensgefühl der Ravergeneration so sexy, suggestiv, oft auch selbstverliebt herüber wie er. Gerade deswegen stellte sich manchmal leise die Frage, ob sich der Turner-Preisträger von 2000 nicht, quasi alterungsbedingt, in die Sackgasse des beliebigen Chillout-Trash und des Selbstzitats manövrieren würde.
 Aber mit «Truth Study Center» unterstrich Tillmans einen viel grundsätzlicheren Anspruch: den auf Systematik und gesellschaftliche Brisanz seiner zunächst so subjektiv wirkenden fotografischen Arbeit. Der Künstler machte klar, dass es ihm um die Frage ging, ob und wie sich mit Bildern die heutige Welt noch erfassen und verstehen lasse. Und damit nahm er zugleich eine zentrale Frage der Gegenwart ins Visier.
 Sicher, wer Tillmans’ Werk von Anfang an verfolgt hatte, konnte von dieser Entwicklung nicht wirklich überrascht sein: Mit einer Arbeit, die Zeitungsausschnitte von Soldaten aus dem ersten Irak-Krieg 1991 zeigte, hatte er schon früh seinen medien- und bildkritischen Ansatz demonstriert. Und die Tatsache, dass er seine Fotografien in zwar präzisen, aber vom Material her betont «billigen» Wandinstallationen mit gefundenem Bildmaterial mischte und so komplexe Bezugssysteme konstruierte, bestätigte ebenso seine hohe Sensibilität für die Kontextabhängigkeit von Bildern wie seine eigenwillig choreografierten Fotobände. Das jüngste Künstlerbuch, «Manual», setzt ihre Reihe fort.

 Sehnsuchtslandschaft aus Bildern

 In «Truth Study Center», aus dem dann ein Ausstellungszyklus hervorging, kristallisierten sich deutlicher als zuvor Themen und persönliche Obsessionen in Tillmans’ Werk heraus - etwa jene wie zufällig wirkenden, dabei hoch manierierten Stillleben und Faltenwürfe. Und wie zur Bestätigung fand sich auf dem hinteren Buchcover das gezeichnete Diagramm dieses subjektiven Bilderkosmos.
 Während der letzten beiden Jahre hat Tillmans die thematische Ordnung seines Bildmaterials konsequent weiterverfolgt. Dabei hat er sein dem Surrealismus geschuldetes Modell der Montage, die auf die bedeutungsträchtige Kollision vielfältigen Bildmaterials setzt, weiter verfeinert und inhaltlich radikalisiert. Mehr als je zuvor bezieht er dabei auch aussagekräftiges Textmaterial ein, Fundsachen aus Printmedien und dem Internet.
«Bali» heisst die Schau. «Bali» steht für exotische Inselwelten und Fernweh. Die Ausstellung präsentiert sich tatsächlich als Archipel aus unterschiedlich hohen, einfach gezimmerten Tischen. Sie ist eine Sehnsuchtslandschaft, in der der Künstler die verschlungenen Pfade seiner Navigation durchs Zeitgenössische darstellt, ein stückweit auch zelebriert. Die Sehnsucht gilt dem nicht ganz unsentimentalen Versuch, unsere Gesellschaft zu verstehen.
 Auf den Tischen hat Tillmans wie in altmodischen Lehrvitrinen unter Glas bekannte und neue eigene Fotografien, Zeitungsausschnitte, Fotokopien, aber auch - neu in seinem Werk - Gegenstände, etwa eine spezielle Milka-Schokoladentafel zur Jahrtausendwende, zu thematischen Gruppen zusammengefügt. Im zweiten Raum sowie an den Seitenwänden hängen Fotografien meist grösseren Formats. Dort lassen sich Kernthemen Tillmans’ in einer Tour d’Horizon erfassen.
So sieht man etwa die Vergrösserung eines Zeitungsausschnitts, in dem ein kritischer Artikel über Goldminen neben die Werbung eines Edeljuweliers zu stehen kommt. Solchen Zufällen - die in der Logik der heutigen Ökonomie auch wiederum keine Zufälle sind - gilt Tillmans’ Aufmerksamkeit.

 Das Private ist das Öffentliche

 «Umverteilung», «Religion», «Rassismus», «Porträt», «Politik», «HIV», «Pixelglück» - so heissen einige der Themengruppen. Manches ist einfach zu entziffern, etwa die Annonce für eine Ferienwohnung aus dem  Neofaschistenblatt «Deutsche Stimme», zu der Tillmans die Bilder vom unheimlichen Spiesseridyll aus dem Netz heruntergeladen hat.
Tillmans hat einen Magmastrom aus Bildern und Texten erzeugt, in dem das Persönliche - etwa Dokumente zu seiner protestantischen Sozialisation - immer auch auf etwas Allgemeines verweisen, ein gesellschaftliches Klima, eine Atmosphäre. Dies ist eine Frucht des Montageverfahrens. Dass ein Haargel für Punkfrisuren Radical heisst, wird viel sagend, weil Tillmans die Aufnahme eines Werbeplakats für Radical neben Zeitungsartikel platziert, in denen es um Fundamentalismen und Chauvinismen geht.
 Tillmans’ Ariadnefäden durchs Labyrinth der Gegenwart führen nicht zu einfachen Antworten. Ohnehin wäre das eine falsche Erwartung an die Kunst. Aber sie führen zu brennenden Fragen. «Jedes gut gemachte Kunstwerk hat immer sehr viel mit Geschichte zu tun», hat Jean-Luc Godard, ein anderer grosser Bilder-Monteur, einmal gesagt. Tillmans’ neueste Arbeit ist nicht nur ein hervorragender Beleg dafür. Ihre Stärke liegt darin, dass der Künstler bei der Verführungskraft eigener und fremder Bilder nicht stehen bleibt, sondern nach den Hintergründen dafür fragt. Innerhalb des zeitgenössischen Kunstschaffens erscheint Tillmans’ Ansatz als prägnante Gegenposition zum Monumentalismus der Bildikonen, mit denen die Becher-Schüler, wie nun Andreas Gursky im Münchner Haus der Kunst, für Furore sorgen. Kein einfacher Weg, auch für die Betrachter nicht. Aber ein höchst bemerkenswerter.


Tages-Anzeiger, 2007-03-09; Seite 49