Hans-Christian Dany

ICH IST EIN GUTES KANINCHEN


Lebenszeit soll eine begrenzte Angelegenheit sein. Darum frage ich mich wohl öfter wenn die Sonne aufgeht, was sich mit meiner persönlichen Vergänglichkeit am besten anstellen lässt. Eine Möglichkeit ist, die falschen Informationen für die Richtigen zu halten, oder aus den Richtigen, die falschen Schlüsse zu ziehen. So mache ich mir regelmässig eine gute Zeit. Gestern arbeitete ich mit einer anderen Methode. Meine Kleider drehten gerade ihre Runden in einer Trommel des Waschcenters. Ich widerstand der Verführung, den Abzählreim der 42 Minuten auf dem Counter zu verfolgen und ging zur benachbarten Tankstelle. Sie verkaufen dort Zeitschriften, man kennt mich und hat nichts dagegen, wenn ich lange blättere. Erst sichtete ich die neuen E-Commerce-Titel, die jetzt da stehen, wo früher die Nackthefte waren, und machte dann rüber zu den Wochentiteln. 184 bunte Seiten zogen an mir vorbei. Nichts berührte mich, ich wollte nicht stehen bleiben, bis ich auf eine Werbestrecke mit Dreiviertelprominenten stiess, die ihren Nachpopappeal für Peek & Cloopenburg zur Schau stellten. Ich sah mir alles genau an: Leute, die früher im "jetzt"-Magazin mitgespielt hatten, schoben nun mit am Wunsch der Firma, das altgediente Label wieder ins metropolitane Licht der Gegenwart zu rücken.
Verkaufen will P & C mit dem Engagement dieser Menschen wohl Bekleidung an Leute, die eins mit dieser Gegenwart werden wollen. Projektionen und Missverständnisse, darüber, um was es sich bei dieser Fusion handeln könnte, bilden auf den Bildern einen grossen Bahnhof. Alle rufen Hallo, keiner will nachhause. Und irgendwo im Hintergrund ist Berlin.
Besonders lustig nimmt sich das Foto zweier Literaten aus, die in auf englisch getrimmten Wollanzügen durch den Tiergarten radeln. Am Himmel hinter sich ziehen die beiden jungen Männer eine Traube bunter Luftballons. Nach vorn blinzelt das Duo aufgeregt in die Kamera. Sieht man genau hin, stellt sich die Vorstellung ein, die Beiden würden sich gleich vor Freude erbrechen.
Die hier als P & C-Models auftretenden Benjamin von Stuckrad-Barre und Christian Kracht kotzten schon bevor sie Models wurden in sich gerade anbietende Ecken oder auf dem Weg liegende Treppenabsätze - zumindest wimmeln ihre Bücher von solchen Geschichten.
Der Jüngere, mit dem nach Gymnastikgeräten klingenden Namen, schreibt, er könne oft Nahrung nicht bei sich halten, da er Angst hat, dick zu werden. Davon hat man gehört. Kracht, der eine Ähnlichkeit mit Ken hat, leidet am unsicheren Distinktionsvermögen seiner Mitmenschen. Man möchte ihn in den Arm nehmen und sagen, das musst Du nicht.
Der Jüngere, schon um seine Figur Besorgte, schreibt, glaube ich, um berühmt zu werden. Das kann jeder verstehen. Er gibt sich auch Mühe mit dem Anziehen und in die Kamera gucken - schräg am Objektiv vorbei.
Kracht, der im Unterschied zu Ken blond ist, springt jeden Tag von der Dusche in einem Bourdieu-Comic, wo er viel erlebt, im Adlon sitzen und so. Vor ein paar Jahren hat er mal den Eindruck hinterlassen, komplexe Gründe zu haben. Ein Kapital, mit dem sich drei Hamsterleben bestreiten liessen.
Wie mir da im grellen Licht der Tankstelle alles in meinem Kopf milde Kreise zieht, klopft die Frage ans Fenster, wie die bei P & C darauf kommen sind, mit diesen Leuten liesse sich Kleidung an Menschen verkaufen, die täglich in zu kleine Büros gehen. Kann sein, aber kotzen die da ständig alle ständig am Flur? Gelegentlich sicher, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass in den Büros ständig davon geredet wird. Vielleicht richten sich die P & C Fotos genau an diese Sehnsucht, sich darüber öffentlich zu machen. Und Kracht und der Andere sind Vorbilder einer Bewegung: die darüber sprechen will, das sie kotzt.
Scheinbar hat der Mann an der Kasse nichts dagegen, dass ich meinen Überlegungen bei den Magazinen noch ein wenig nachhänge. Also erlaube ich mir noch ein paar Schlaufen: Wirklich interessant ist an der Fotostrecke, dass in der Literatur zur Bulimie neigende Männer jetzt als Fotomodels auftreten. Ich würde sogar soweit gehen, diesen Metierwechsel als Metapher für einige Formen immaterieller Arbeit zu betrachten. Bei dieser Arbeit handelt um den immer wichtiger werdenden Vorgang der Contentbulimie (CB) - also den komplexen Prozesses immaterieller Arbeit, innerhalb dessen die Waren in einen hastigen Ping Pong mit Bedeutungen treten. Das ist meist kein lustiges Spiel, sondern eine verzweifelte Angelegenheit. Denn es kommt darauf an, das sich die zu verschmelzenden Teile nicht zu nahe kommen, also Kleider oder andere Waren, die aufgeladen werden sollen, nicht in Bedeutung ertrinken. Trotzdem sollte CB nicht als Häppchen-Diät oder Entschlackung von Inhalten missverstanden werden. Vielmehr handelt es sich dabei um einen ständigen Wechsel zwischen Füllung und Entleerung. Die für diese Verwertungen aus den unterschiedlichsten Feldern angeeigneten Kurzzeit-Inhalte werden schon in inkonsistenter Form aufgenommen und abrupt wieder ausgeschieden. Der durch die beschleunigte Produktion ins masslose steigende Bedarf nach ständig wechselnden Content-Input führt zu einer Form quasi-parasitären Aneignens und durch-Ausspucken-wieder-Entwerten von allem, was verwendbar erscheint.
Es geht dabei nicht wirklich um Körper, aber man kann es sich schon so plastisch vorstellen. Als einmal Erbrochenes kann der Content nur noch schwer auf Neue verzehrt werden. Obwohl Anzeichen zu erkennen sind, dass sich da momentan in diesem Bereich neue Techniken entwickeln - Methoden der Anpassung. Das sieht dann irgendwann so aus wie eine immaterielle Variation von Tiefkühlkost und Recyling.
Oft wird bei diesem Verschleiss-Vorgängen Verzehrtem ein Content-Wert beigemessen, den man so nicht erwartet hätte. In diesem Falle wird unnötig heftig aufgestossen. Man wundert sich und möchte sagen, da war doch nichs. Während sich dieser Satz durch mein Bewusstsein schiebt, legt die Parasitologin ihre Hand auf meine Schulter und sagt mit freundlicher Stimme, wir leben niemals in den Tieren, die wir essen. Bevor ich zustimmen kann, ist sie schon zur Kasse entschwunden. Ja, sie hat recht und genau darin liegt wohl das genauso Reale, wie Attraktive dieser Methoden. Auch enthalten die auf den ersten Eindruck problematisch wirkenden Techniken der CB das Potential eines kleinen Zugunglücks auf der Signifikationsschlaufe, das dahin tendiert, sich den kontrollierten Codes zu entziehen, um sich jenseits der Gleise neu zu formulieren. Ich betrachte einige der letzten Entgleisungen in meiner Erinnerung ein wenig näher: Was liesse sich mit ihnen anstellen? Wollen sie gehegt und gepflegt werden? Meinetwegen trug ich bis vor kurzem am liebsten Hosen von HL. Jeans, in denen ich mir wie ein Hollywood-wash-out vorkam. Nach dem Joint Venture mit Prada fand meine Liebe zu Lang ein abruptes Ende Der Stoff der Hosen fühlte sich plötzlich unangenehm an, die schleissige Verarbeitung stiess mir auf.
Trennungen von Firmen könnte man traurig finden, weshalb man sich das Gefühl geben muss, selbst zu entscheiden, das lernt man zumindest in der Konsumenten-Therapie. Ich hatte nicht wirklich Erfolg, auch habe ich für meinen Überschuss an Hinwendung noch keine andere Firma gefunden. Irgendwie küpft sich an solche Entscheidungen auch keine Hoffnung. Da es in der Welt, also ich meine jetzt nicht die Tankstelle, sondern die der Magazine, beim Tragen von Kleidung natürlich um eine komplexe Sprache handelt, die gelernt und gesprochen werden will. Jetzt bin ich sprachlos. Nichts mehr mit: ich differenziere mich, also bin ich. Gibt man mir nichts, womit ich Distinktion machen kann, fühle ich mich allein gelassen und werde zum renitenten Konsumenten. Ich will was kaputt machen, halte dann aber doch inne. Die Magazine sagen seit einiger Zeit, die Konsumtion sei doch Teil der Produktion und wir Käufer würden doch mit den Waren Dinge tun, für die die gar nicht vorgesehen wären. Ich wäre also voll im Plan. Wenn sie das beobachten, nennen sie es Marketing mit etwas Antikapitalismus oder praktische Cultural Studies. In der Beobachtung sieht es dann so aus: Ich kaufe und versprühe einen Content (würde ich etwas platt hauen, macht das natürlich schwer was her) und packe einen zweiten Content in die Tüte und zuhause kommt ein Dritter auf den Tisch. Also die Packung sagt, es seien Strümpfe, ich kaufe mir eine Mütze und daheim spielen wir damit Fang den Hut - das ist produktive Konsumtion. Eine der Konsequenzen ist, wer kauft und keinen Content findet, ist selber schuld - schafft den Sprung zur Selbstverantwortung nicht. Man lebt halt in einer Zeit, in der viel gesprungen oder auf der Strecke geblieben wird. Da hat man was im Auge. Ich bin ein gutes Kaninchen.
Das artikulierte und selbstverantwortliche Shopping bildet einen steten Fluss gemässigter Aufgeregtheiten. Es sind weniger quali- als quanitfizierbare Impulse. Selbstgemachter Content-Brei für Abende an denen wir fühlen und reden wollen, statt andere fühlen und reden lassen. Manchmal befragen sie uns über die Spiele und bauen die neuen entsprechend um. Bricht das Band kleiner Reizinjektionen ab, stellen sich die vertrauten Phasen der Skepsis ein, in denen sich das Gehirn wie ein ausgelaufenes Wasserbett aufführt. Ist einem dann fad in diesen Phasen, gibt es noch ein anderes Mittel zur Füllung der entstehenden Leere, man arbeite einfach mehr und sei es wieder als Produzent alter Ordnung. Und eigentlich ist das jetzt alles ja auch kein Unterschied mehr. Unentwegtes Produzieren schafft täglich neue Formen, die wiederum nach Content rufen. Irgendwann wird der Sog von soviel Vacuum in den tausend neuen Kanälen schon gross genug. Nicht wenige wurden in den letzten Jahren Kanalarbeiter in diesen halbwahren Abenteuerräumen . Dabei ging es weniger um Distinktion, als um Blaupausen möglicher Lebensmodelle. Ja echt erfüllte Leben. Luxuriöse Neuerfindungen der Sorge um sich selbst? Nein, sich einfach zu überlegen, was gerade richtig ist und die jeweilige Struktur zu adaptieren. Mal wird die Last der Identität in ein gutaussehendes Produkt verwandelt oder die Methoden international agierender Konzerne auf die eigene Biographie übertragen. Mag diesen Techniken auch etwas hysterisches anhaften, geht es doch darum, die Mitmenschen seltener mit der eigenen Gier nach Identität zu belästigen. An die Stelle der Identität, von der man eh zuviel hat, eine formal saubere Lösung treten zu lassen. Beobachte ich mich selbst beim Umgang mit diese Selbstkonstruktionen, werde auch eine Firma, höre ich meine Stimme im Tonfall eines Visionsstellvertreters reden - eine Art corporate scientist, der die Zukunft lebenswert erscheinen lässt. Nicht dass es mir dabei schlecht ginge, aber ich kann auch nicht mit Oropax einschlafen. Zur Beruhigung greife ich nach der kleinen Dose und schlucke zwei Content-Placebos. Sie sind leer und knallen trotzdem. Nach wenigen Minuten erkenne ich in einer am Himmel vorüberziehenden Wolke die Worte - Werden oder Essen. Langsam verschwimmt das Schriftbild und plötzlich steht da in fetten Lettern - Kotzen oder Sein. Die Schrift sackt in den Hintergrund und an seiner Stelle tritt das Hologramm einer kleinen Bühne. Der Vorhang geht auf und heraus treten die Hauptdarsteller: Polux & Castor, die erzählen, das sie schon als Kinder berühmt werden wollten. Später erkannten sie, dass der beste Weg dorthin der ist, Designer zu werden - eine Marke erfinden. Die anderen Wolken applaudieren. Als moderne Helden machten sie aus diesem Wunsch von Vielen Wirklichkeit und begannen ihren Namen, so oft wie nur irgend möglich, zu reproduzieren. Um ihr Label noch berühmter zu machen, traten sie mit grossen Labels in Kontakt und an dessen sozialem Kapital. Heute denken Polux & Castor darüber nach, wie man aufhört eine Person zu sein und ein Produkt wird. Ein dahingehauchtes Subjekt, ein Wispern im Wind, das - wer es bezahlt - mitnehmen darf. Einen Namen wollen die Beiden, aber bitte keinen gefüllten Körper, er wäre zu schwer, um zwischen den Wolken zu schweben. Zum Erhalt ihrer Leichtigkeit brauchen sich die nicht mehr, wie die Menschen am Ende des letzten Jahrhunderts, nach vorne zu beugen, um angestrengt Gewicht zu lassen. Sie benutzen von anfang an C-Placebos. Deshalb brauchen sie auch keine Angst mehr zu haben, entfremdet zu werden. Eine Verwechslung aus der Vergangenheit, all diese Vermutungen ihr Selbst und dessen Füllung. Ein wenig erschöpft von all diesen Abenteuern zog ich meine Wäsche aus der Trommel und fuhr sie mit einem Korb auf Rädern zum Trockner.