Hans-Christian Dany

Linux - Eine gut aussehende Technologie des Neoliberalismus (8.99)


Die Sonnenfinsternis war vorbei. Benommen wankte halb Wien von den Hügeln und sang mit den wieder erwachenden Vögeln. Alle bogen in ein Heurigenlokal. Über das Ereignis liess sich schwer sprechen, so kam man schnell auf Fragen wie jene, ob Prada-Schuhe, die zum iMac passen, auch zum iBook passen würden. Der Kauf neuer Schuhe würde sich rechnen, wenn man Linux auf dem iBook installiert. Überhaupt täten das jetzt alle. Dabei sei es unglaublich billig, eigentlich umsonst. Wie ginge denn das, fragte einer. Das ginge, weil Linux aus so einer neuen Ökonomie käme, in der die Leute nicht mehr wegen Geld arbeiten würden, sondern aus anderen Gründen. Aber wie die neue Ökonomie genau ginge, wisse er auch nicht.
Die Fülle unbeantworteter Fragen nach dem Leben im Land der offenen Quellen und freien Software, allen voran Linux, und den daraus resultierenden politischen und wirtschaftlichen Folgen gab Anlass genug zu einer ersten grossen Konferenz im deutschsprachigen Raum. Im Berliner Haus der Kulturen der Welt, der 'schwangeren Auster', diskutierten Mitte Juli zwei Tage lang über 40, meist männliche ReferentInnen auf Einladung der Medieninitiative mikro e.V. und einer Arbeitsgruppe der Humboldt-Universität. Bei 'Wizards of OS # 1' dominierten praxisorientierte Präsentationen gegenüber theoretischen Vorträgen. 'Open Source' (OS), der Zugriff auf den Quellcode einer Software, führt zurück in die sechziger Jahre, als IBM die ersten Betriebssysteme auf den Markt brachte. Weder kam IBM auf die Idee, den Quellcode zu verschliessen, noch unterlag die informationelle Ware einem Copyright - nur deshalb nicht, weil es keine entsprechende Gesetzgebung gab. Ähnliches galt für UNIX, das Anfang der siebziger Jahre grössere Verbreitung fand. Da das Betriebssystem ohne Service oder Wartung verkauft wurde, waren die BenutzerInnen auf Selbsthilfe angewiesen. Es entstand eine Kultur des Informationsaustausches über Software und deren mögliche Modifikation. Ein im Programm entdeckter 'bug' und die Möglichkeit, ihn zu 'fixen', beziehunsgweise andere Weiterentwicklungen wurden untereinander kommuniziert und dem Hersteller kostenlos zur Verfügung gestellt. Software wurde noch als gemeinsames Forschungsprojekt verstanden.


Copyright - Copyleft

Gegen die kaum regulierte Situation schrieb Bill Gates 1976 in einem 'Open Letter to the Hobbyists': 'Ihr klaut unser Altair BASIC.' Ein Brief mit Folgen: Vier Jahre später wurde die Ausdehnung des Copyright Act auf Software beschlossen, was zu einer massiven Veränderung der Produktionsbedingungen führte. Um den immateriellen Wert von Software maximal abschöpfbar zu halten, wurde dieser nicht nur juristisch geschützt, sondern ihr Quelltext auch technologisch verschlossen. Software-Entwicklungen wurden zur Verschlusssache.
Als Reaktion auf diese von ihm als 'amoralisch' betrachtete Regulierung gründete der am MIT tätige UNIX-Programmierer Richard Stallman die bis heute aktive 'Free Software Foundation' und entwickelte das Gegenmodell des 'Copyleft': des Rechts, schon vorhandene Software weiterzuentwickeln, und der Pflicht, Arbeitsergebnisse wieder der (Netz-)Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Mit dieser Grundformel begannen er und andere die Arbeit an dem Softwareprojekt GNU, das seinen BenutzerInnen weiterhin den Zugriff auf den Quellcode ermöglichen sollte. Ohne von dem GNU-Projekt zu wissen, begann in Norwegen der Student Linus Thorvalds 1989 mit der Entwicklung eines Betriebssystems, das einem ähnlichen Anspruch verpflichtet war - Linux. Als die beiden Projekte voneinander erfuhren, wurde Linux als noch fehlender 'Kern' in GNU eingefügt. Das seit 1991 in Rohform im Netz und auf Disketten kursierende Betriebssystem wurde aber erst 1994 offiziell auf den Markt gebracht und mit Handbuch vertrieben. Obwohl noch kein fertiges Produkt vorhanden gewesen war, waren schon zwei Jahre zuvor zahlreiche OS-Firmen gegründet worden, die das grosse Geschäft gewittert hatten.


Subversiv oder effektiv

Bekannt wurde die Fusion aus GNU und Linux als Linux. Das grosse Interesse entstammte eher praktischen Motiven - wie grösserer Absturzsicherheit, Flexibilität und hoher Funktionalität - denn politischen. Während der in Berlin abwesende Thorvalds seine Rechte inzwischen an die gemeinnützige Gesellschaft Linux International abgetreten und sich aus dem Geschäft zurückgezogen hatte, beschwerte sich Stallman über das verschobene Bild in der Öffentlichkeit. Bei der augenzwinkernden Mission des Althippies, der als Stargast in Berlin den Abschlussvortrag hielt und sich dabei einen selbstgebastelten Heiligenschein aufsetzte, handelt es sich aber um mehr als die gekränkte Eitelkeit eines Pioniers. In der Differenz zwischen der pragmatischen Position Thorvalds', dessen Ziel ein effektiveres Betriebssystem war und der die Kommerzialisierung als für die Verbreitung notwendig erachtete, und dem politisierten, wenn auch auf einen individuellen Freiheitsbegriff reduzierten Ansatz von Stallman, deuten sich einige der Konfliktlinien rund um OS an. Das Konferenzprogramm formulierte diese in einem gesamtgesellschaftlichen Rahmen und warf die Frage auf, ob OS-Projekte und die scheinbar frei von ökonomischen Zielen verausgabte Arbeitskraft den Kapitalismus auf den Kopf stellen werden. Aus dem Publikum raunte es des Öfteren, in der OS-Bewegung sei gar der jüngste Wiedergänger des Kommunismus am Werk - ein Label, das sich scheinbar auch unter Techno-Nerds neuer Attraktivität erfreut. Oder handelt es sich bei OS um das perfekte Software-Business-Modell für die flexibilisierte Dienstleistungsgesellschaft? Diese Frage wurde auf der Konferenz durch eine Vielzahl von Perspektiven und das Nebeneinander verschiedenster Interessenlagen ausdifferenziert. Der im Hinblick auf die soziale Realität etwas abgehoben wirkende Konflikt - wenn Subversion morgens in den Spiegel sieht und darin mal mehr, mal weniger erschrocken eine neue Firma erkennt - scheint vielleicht auch angesichts ins Haus stehender, teils schon entschiedener Verteilungskämpfe relevant.


Grosse Koalition

Bis auf den grossen Feind - Microsoft - kamen in Berlin fast alle zu Wort. Wie üblich auf der Seite des Guten war der Chaos Computer Club mit kompakten Referaten und Anti-Microsoft-Merchandising. Selbst der mit ihnen auf dem Podium sitzende Vertreter aus dem deutschen Wirtschaftsministerium hätte die Buben am liebsten gleich mit in den Flieger genommen. Auch in der Kryptografie, einer Schlüsseltechnik des informationellen Kapitalismus, geht der Trend weg von 'security by obscurity', in der eine kleine Priesterschaft über das Geheimnis wacht, hin zu OS-Verfahren, die auf die Stärke des transparenten Algorithmus setzen. Neben der Erörterung von Sicherheitsfragen forderten die CCC-Vertreter massiv, dass an den Universitäten produzierte Software öffentlich gemacht werden sollte. Und der Medientheoretiker Friedrich Kittler prophezeite gleich den Untergang der deutschen Universität, würde diese nicht auf OS umstellen.
Der Filmemacher Nazir Peroz berichtete, dass schon jetzt viele afrikanische Universitäten und seit kurzem auch die meisten Schulen Mexikos mit OS arbeiten. Weder ist diese Software teuer in der Anschaffung noch erfordert ihre Benutzung ein kostenintensives Update der Hardware. Der pädagogische Wert von OS liegt also auf der Hand: Während proprietäre, geschlossene Software ihre BenutzerInnen zu blossen AnwenderInnen degradiert, ermöglicht Quelloffenheit Partizipation und fördert die Mitverantwortung der BenutzerInnen, die zumindest potentiell zu Co-ProduzentInnen werden können. Um es altmodisch zu formulieren, bereitet OS auf weniger entfremdete und theoretisch mitbestimmte Arbeitsplätze vor.


Basar der Bugfixer

Besonders plastisch wird der mit Open Source assoziierte Arbeitsbegriff in den Texten des in Berlin nur als ständig wiederkehrende Referenz anwesenden OS-Soziologen Eric Raymond. Dieser unterscheidet zwischen dem 'Kathedralen-' und dem 'Basar-Modell' (www.earthspace.net/~esr/writings/cathedral-bazaar/).
Ersteres beschreibt die seit dem Copyright Act dominante Form der Software-Entwicklung durch geschlossene Teams, deren erst als fertige Produkte veröffentlichte Programme nur an der Benutzeroberfläche zugänglich sind. Entwicklungen, die mit dem Basar-Modell beschrieben werden, sind schon in einem frühen Stadium über das Netz zugänglich und beziehen alle, die wollen und können, in ihre Herstellung mit ein. Bei OS-Projekten sind dies häufig mehrere hundert EntwicklerInnen, die sich über Monate und Jahre in unbezahlten Nächten daran beteiligen. Warum? Eine Frage, auf die Eric Raymond eine schöne Antwort gibt: 'Man erwirbt Status und Anerkennung nicht durch Herrschaft über andere Menschen und nicht dadurch, dass man schöne Dinge besitzt, die andere nicht haben, sondern indem man etwas hergibt, insbesondere die eigene Zeit, die eigene Kreativität und die Produkte der eigenen Fähigkeiten.' Skeptischer formuliert, liesse sich auch sagen, dass eine solche selbstorganisierte Aufmerksamkeitsökonomie heute schon in einigen Feldern Aufgaben übernimmt, die früher vom Arbeitsamt erledigt wurden. Dessen Kosten werden auf die sich mit unbezahlten Projekten selbst bewerbenden, gerade mal potentiellen ArbeitnehmerInnen ausgelagert. Ein Basar, auf dem sich die TagelöhnerInnen immaterieller Arbeit mit tollen 'bug fixes' den Headhuntern der grossen Software-Häuser feilbieten. Dieser Skeptizismus greift aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Es bleibt der Rest eines 'sonderbaren Wesens' (Toni Negri) aus sozialer Bewegung und vergesellschafteter Arbeit, das seine Autonomie zu wahren versucht, indem es sich einen Raum ausserhalb der kapitalisierten Welt erobert.


Neue Fabrik

Strategien der Selbstorganisation, bis vor wenigen Jahren ein wesentliches Terrain der 'sonderbaren Wesen', decken sich zunehmend mit den Notwendigkeiten einer deregulierten Marktwirtschaft und ihrer wachsenden 'cooking pot markets'. Was viel versprechend als 'neue Ökonomie' angekündigt wird, scheint selten mehr als die sich an technologische Entwicklungen anschmiegende Umstrukturierung der Arbeitsteilung. Das liberale Feuilleton feiert es gar als 'Befreiungstechnologie aus der babylonischen Gefangenschaft des Bill Gates' und als 'Alternative zum Turbo-Kapitalismus'. Diese Alternative ist ein Markt, auf dem schon jetzt Firmen mit Wachstumsraten bis zu 700 Prozent konkurrieren. Der Erfolg ist dabei weniger auf der Seite von gemeinnützigen Unternehmen wie Debian/GNU als von solchen wie dem Linux-Distributeur SuSE Rhein Main AG - dem deutschen Marktführer und nach Red Hat (Silicon Valley) Nummer zwei am Weltmarkt. Erstere dürften diesen Platz auch halten, da hinter ihnen das Kapital des Prozessorherstellers Intel steht. Als Red Hat heuer an die Börse ging, kletterte die Aktie innerhalb der ersten 14 Tage um 400 Prozent.
Red Hat und SuSE machen die Arbeit vieler für wenige ertragreich: zuerst einmal, indem sie das kollektiv hergestellte Produkt, das kostenlos aus dem Netz bezogen werden kann, verpacken und unter einem Label verkaufen. Der wesentliche Markt dürfte in kundenorientierten Applikationen liegen. Was im fordistischen Sinne Produkt genannt werden würde, wird zu Dumpingpreisen quasi verschenkt. Die Wertschöpfungskette greift erst in Form von Providing, Wartung oder dem Entwickeln von eigens auf den Kunden zugeschnittenen Features. Abschöpfbare Arbeit, die sich mit den genormten, der fordistischen Massenproduktion verhafteten Microsoft-Produkten bei weitem nicht freisetzen lässt. Die Gewinnspannen ergeben sich nicht durch die den Boom anheizenden Privatkunden, die sich eine Linux-CD-ROM für 700 Schilling kaufen, sondern durch Konzerne wie Sixt, UPS, NASA, Lockheed Martin, die bereits Millionen investiert haben, oder den kurz vor dem Einstieg stehenden japanischen Videogame-Marktführer Nintendo und Sony (vgl. econy 3, 1999). Neoliberale Sorgen, dass die ProtagonistInnen des 'Dritten Weges' es verabsäumen könnten, rechtzeitig die zur Lösung ihrer Probleme perfekte Technologie OS zu erkennen, scheinen unberechtigt. Die von MedienarbeiterInnen erfundene und zunächst unbezahlte Arbeit wird nun nach dem vorhandenen Akkumulationsregime modifiziert. Hier werden VermittlerInnen aktiv, die teilweise eigenes Venture-Kapital investieren oder im Auftrag von Konzernen beziehungsweise Banken Arbeitsplätze und die noch frei flottierenden Kapazitäten an die alten Geldkreisläufe andocken.
Als Startschuss für das industrielle Umschwenken auf OS wird das Programm Mozilla der Firma Netscape, das im Februar 1998 veröffentlicht wurde, gewertet. Inzwischen zog eine Vielzahl von Firmen nach, so jüngst auch Silicon Graphics, die ihr XFS-Dateiensystem OS zur Verfügung stellten und damit einen der letzten Mängel beim Einsatz von Linux auf grossen Servern behoben, was dessen momentanen Marktanteil von 17% steigern dürfte. Die Notwendigkeiten der neu entstehenden Märkte schlagen sich inzwischen auch auf der Ebene der Legislative nieder. So beschloss Australien jüngst eine Gesetzesänderung: Um die dortige Software-Branche gegenüber den amerikanischen und europäischen Konkurrenten zu stärken, verfasste die Regierung einen Zusatz zum Urheberrecht, wonach bedingtes 'Reverse Engineering' ohne Zustimmung der Copyright-InhaberInnen erlaubt ist, um die Interoperabilität der Produkte zu ermöglichen (vgl. q/depesche 8, 1999).


Alt+F4

Die HackerInnen-Parole 'Alt+F4' deckt sich mit den Interessen einer avancierten Ökonomie - eine Vorreiterposition, die HackerInnen schon in Sachen Deregulierung des Telefon-Monopols einnahmen. Die grosse Allianz der Microsoft-GegnerInnen wendet sich fraglos aus unterschiedlichsten Motiven gegen den gigantischen Dinosaurier. Der Angriff auf den Quasi-Monopolisten mit überholten Strukturen zielt auch auf eines der zentralen Hindernisse beim nächsten grossen Exploitationsschub im Software-Sektor. Auf das Regulationsregime im Zeichen des Copyright folgt, verkürzt formuliert, das (De-)Regulationsregime des 'Copyleft'. An die Stelle des zentralisierten Marktes um Mircosoft treten in flachen Hierachien strukturierte Arbeitsteilungen, für die sich die OS-Technologie anbietet.
Egal, was hinter dem Fenster liegen mag, in jedem Fall muss Microsoft 'vertikal oder horizontal zerschlagen werden' (US-Kartellgericht), damit die jetzt noch mit minderwertigen Arbeitsgeräten ausgestatteten ProduzentInnen effektiver eingesetzt werden können. Und vielleicht fühlt sich die jüngste Variante des Kapitalismus auch gar nicht so schlecht an, vielleicht sogar besser. Manchmal sieht sie sogar richtig gut aus, im Licht der aufgehenden Sonne.

Die Dokumentation zu 'Wizards of OS' ist unter http://www.mikro.org
zu finden.


erschien in springerin 3/99