Hans-Christian Dany / Valdinar Souza Lima

Die acht schönsten Fahrten durch Rio



Bei dem folgenden Text handelt es sich um Ausszüge eines Gesprächs, das im Januar 2001 in einem Swimmingpool in Rio de Janeiro begonnen wurde. Aus Gründen, die sich beim Lesen schnell erschließen dürften, schien es sinnvoll, einige der erwähnten Namen, Daten und Orte zu verändern.

Als ich dich kennenlernte, wurdest du mir als Betreiber des Ausstellungsraumes Entertainment Projects in Rio vorgestellt. Du warst gerade dabei, eine Videoinstallation von Piere Huyghe aufzubauen. Später erfuhr ich, dass du auch Künstler bist. Diese Doppelrolle hat mich natürlich neugierig gemacht. Auch schienst du alles andere als ein typischer brasilianischer Künstler zu sein. Du sprichst fließend Deutsch, hast einen Großteil deines Lebens in Europa verbracht. Wie erlebst du es selbst, brasilianischer Staatsbürger zu sein, deine frühe Kindheit und ganze Sozialisation als Künstler aber in Europa durchlebt zu haben und jetzt wieder hier zu wohnen? Deine Arbeit, dein Denken scheint von dieser Biographie sehr geprägt.

Wahrscheinlich ist da wirklich was dran. Mein Vater hat neun Geschwister, ich sieben. Wir mussten 1966, kurz nach der sogenannten Revolution – der Machtübernahme durch die Militärs -, das Land für zehn Jahre verlassen, da mein Vater russisch sprechen konnte. Brasilien war damals, ist bis heute, politisch wie ökonomisch stark auf die USA ausgerichtet. Russischkenntnisse reichten aus, um als Kommunist zu gelten, was während des Kalten Krieges als untragbar galt.
Als sich die Situation Mitte der siebziger Jahre entspannte, kehrten wir aus Europa, wo wir in Belgien gelebt hatten, zurück. Ich, inzwischen Dreizehn, habe dann hier die Schule beendet und anschließend Ingenieur studiert wie mein Vater und alle meine Geschwister.
Dass ich anschließend wieder nach Europa ging, entsprang einem guten Witz meines Bruders, der Bikinis verkaufen wollte, aber mich mit dreitausend Stück, die zu kleinen Kügelchen gerollt in zwei Koffer passten, losschickte. Die habe ich auch massenweise in Portugal am Strand verkauft. Aufgrund der Hyperinflation kosteten Bikinis bei uns einen Dollar, ließen sich dort aber für fünfunddreißig verkaufe. Auf Dauer scheiterte das Geschäft aber am Zoll.
Trotzdem blieb ich in Europa, anfangs bei einem Freund in Belgien. Bis dahin hatte ich von Kunst keinen blassen Schimmer, stolperte aber plötzlich in alle möglichen Ausstellungen. Was ich sah, hat mich immer mehr interessiert, und eines Tages setzte ich mich in einen Zug nach Paris. Dort begann ich eine Grafikschule zu besuchen. Genauer gesagt wechselte ich die Schulen ständig, da mir, was ich lernte, noch nicht das Richtige zu sein schien. Zuletzt landete ich auf einer Schule für Theaterregie. Ohne jemals inszeniert zu haben, bewarb ich mich bei einem renommierten Opernwettbewerb in Zürich, den ich sogar gewann. Dort lebte ich eine Weile und begann, nach einigen Umwegen über Bühnenbild, Straßenmalerei und impressionistische Auftragsarbeiten, zu malen. Eigentlich waren es eher große Zeichnungen, was ich damals gemacht habe. Die ließen sich sogar erstaunlich schnell in Galerien zeigen. Dadurch bekam ich mehr Kontakt zu Künstlern meines Alters, was mich zunehmend in eine andere Richtung zog. Obwohl sich die Zeichnungen sogar ganz gut verkauften, wurde mir der Galeriebetrieb aber schnell etwas zu langweilig.

Wann hast du begonnen, dich vom Galeriebetrieb abzuwenden, und deine Arbeit in den öffentlichen Raum verlegt?

Das muss um 1989 gewesen sein, als es anfing, dass ich mich nach Ladenschluss im Supermarkt einzuschließen ließ, um dort in der Nacht die Verpackungen zu verändern. Am liebsten ersetzte ich die Etiketten von Wein- und Milchflaschen. Damals gab es die ersten Macintoshcomputer an der Angewandten in Zürich. Obwohl kein Student, konnte ich mich da immer recht leicht infiltrieren. Es faszinierte mich, wie schnell sich mit diesen Maschinen selbst komplexe Drucksachen herstellen ließen. Vor allem aber interessierte mich das Publikum im Supermarkt. Obwohl mich noch störte, dass die Sachen am nächsten Tag verkauft wurden und damit wieder im Privaten verschwanden. Deshalb begann ich zunehmend, Plakatwände zu überkleben. Das waren keine Verwüstungen, sondern präzis und professionell gemachte Eingriffe – Veränderungen des Textes oder grafischer Details. Es sollte unklar bleiben, ob Benetton oder Coca Cola das nun so gemeint hatten oder nicht.

Hatten diese Plakatmanipulationen eine politische Intention?

Es waren immer, wenn auch indirekte, Reaktionen auf die aktuelle politische Situation – wobei mir die Ästhetik sehr wichtig war. Jeden Monat überklebte ich religiös eine Kampagne. Um die Täuschung zu perfektionieren, begann ich systematisch die Kampagnen in der ganzen Stadt zu überkleben, was oft die Überarbeitung von hundertfünfzig Großplakaten bedeutete.

Du hast einen Hang zu solchen regelmäßigen Wiederholungen, hatte das in diesem Fall eine spezifische Funktion?

Zuerst waren die Überklebungen mehr eine Spielerei. Die gleichmäßige Wiederholung funktionierte als Verstärker, sollte dem Ganzen mehr Gewicht geben.

Zum einen ging es darum, eine Identität – auch die eines Künstlers – zu entwickeln, andererseits hast, musstest du dich durch die Anonymität entziehen. Dabei entsteht ein Widerspruch, ein Geheimnis, das sehr verführerisch ist.

Rückblickend lässt sich das so sehen, zu dem Zeitpunkt war mir das aber nicht klar, dafür war ich zu sehr drin, hatte keinen Abstand. Ich bin eigentlich immer sehr in Sachen reingegangen. Mir war wichtig, dass die Plakate schnell wirkten – auch beim Kronen Zeitungs-Leser. Damals fuhr ich viel Taxi und horchte darauf, was die Fahrer dazu meinten. Die Überklebungen tauchten zunehmend in den Medien auf. Fleißig schrieben die Zeitungen darüber, was der "Plakatpirat", so nannten sie mich, wieder angestellt hatte. Keiner wusste, wer das war, was das überhaupt war, aber alle sprachen davon. Das war mir wichtig, obwohl ich gar nicht wusste, was ich von diesem Echo eigentlich wollte. Dass sich daraus über die Zeit ein Code entwickeln würde, die Anonymität wiederum zu einem Markenzeichen werden sollte, habe ich erst viel später kapiert.
Keinen Namen zu haben, hat sicher seinen Charme, aber es beschränkt auch: Du bist außerhalb deines lokalen Zusammenhanges nur bedingt adressierbar – es zwingt dich dazu an einem Ort zu bleiben.
Es war auch die Kunstszene, die anfing, die Überklebungen Kunst zu nennen. Ich habe das erst mal nicht so gesehen. Nach fünf Jahren gab es die ersten Einladungen zu Gruppenausstellungen – einige wussten ja inzwischen, wer ich war. Mich hat das aber nicht wirklich interessiert. Das war mir ein zu ungenauer Umgang mit dem Medium Plakatwand. Es geht nicht mehr darum, eine Nachricht in den öffentlichen Raum zu senden, wenn in der Ecke Migros Bank, Steirischer Herbst oder Museum in Progress steht, das ist nur noch Werbung für den Künstler oder die Institution.

War die zunehmende Akzeptanz der Grund, mit den Plakaten aufzuhören?

Nein, mir wurde das mit den Plakaten einfach zu anstrengend. Das war eine ziemliche Plackerei, ich war ständig erkältet und musste zu oft vor der Polizei weglaufen.
Schon in den Jahren davor hatte ich meine Post mit selbstgemachten Marken verschickt, das wollte ich jetzt im größeren Stil probieren. Es ging darum zu zeigen, wie blöd dieses System ist. Die erste Massensendung, rund zehntausend Briefe, habe ich an fast alle Politiker der Schweiz, Zeitungen, Fernsehstationen und verschiedene Privatleute verschickt. In dem Briefumschlag befand sich ein modifizierter Jenny Holzer-Spruch, der klarmachte, es handelt sich um gefälschte Marken. Die Sendung löste einen ziemlichen Sturm in den Medien aus, der aber einen unangenehmen Nebeneffekt für mich haben sollte. In einer Zeitschrift schrieb ein angeblicher Freund von mir einen Artikel mit der Überschrift "Das Phantom Valdinar Souza Lima", in dem stand, ich sei der Plakatpirat, und, obwohl er das gar nicht gesichert wissen konnte, ich sei verantwortlich für die Massensendung mit den gefälschten Marken. Da war es für mich in der Schweiz natürlich aus. Am nächsten Tag übersiedelte ich nach Nizza.
Mein über Jahre aufgebautes Publikum war weg, aber ich sagte mir, das mit den Briefmarken hat dort geklappt, also kann es auch woanders klappen.

Die Massensendungen als Vehikel, um auf dem Postweg in Zürich zu bleiben?

Ja, deshalb waren die Adressen von vierhundert Züricher Taxifahrern in der Kartei, die Künstler, Zeitungen und Institutionen. Die zweite Massensendung habe ich während des Krieges aus Kroatien, die dritte aus Dänemark verschickt. Für die vierte Sendung aus Frankreich habe ich den Verteiler verfeinert, ein Dorf in den Alpen, ein Viertel in Venedig, Galerieverteiler aus Deutschland und den USA hinzugefügt. Aus dieser Arbeit sind wieder vier Jahre geworden: zwanzig Sendungen mit je fünfzehntausend Empfängern, also insgesamt dreihunderttausend Poststücke. Meist waren es Drucksachen, seltener Gegenstände, wie eine Gabel aus chinesischen Essstäbchen, eine Kreditkarte aus Malaysia oder eine Windel für Frühgeborene aus Kolumbien.

Als ich das erstemal davon hörte, dachte ich, du hättest ein üppiges Erbe durchgebracht.

Nein, das war auch gar nicht so teuer, wie man denkt, Portokosten gab es nicht, dafür aber viel Arbeit. Oft habe ich den ganzen Monat lang Briefmarken geklebt. Dazu kamen verschiedenste logistische Probleme. Zum Glück arbeitete ich mit einem guten Drucker zusammen, der auch die heiklen Sachen – da gab es einige sexuell recht problematische Motive – für mich druckte.
Über die Zeit fing ich an, mich zunehmend dafür zu interessieren, wie sich eine solche Aktion in den verschiedensten Ländern organisieren lässt. In Brasilien hat das ja einen ganz anderen Anspruch als in den USA, wo das Fälschen von Briefmarken als Kapitaldelikt gilt.
Klar ging es bei der Arbeit oft einfach um Adrenalin. Die Marken mussten immer in die Länder geschmuggelt werden, da ich sie dort nicht drucken konnte. Nach Syrien mit falschen Markeneinzureisen, ist schon ein heißes Spiel, das dich eine Hand kosten kann. Auf dem Rückweg wurde ich natürlich prompt mit fünfzehntausend gefälschten Bulgarischen Marken in einem Unterteil des Autos erwischt – zum Glück von den Griechen, weshalb ich kurzfristig auf Zypern im Gefängnis saß. Aber das hat mir damals alles ziemlich gefallen, wohl gerade auch, weil es oft so infantil war.

Wie kam es zu der Zahl von fünfzehntausend Empfängern?

Das war eine Dimension, die ich mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln noch, einem tragbaren Macintosh, bewältigen konnte. Auch hatte ich mal gehört, dass ein gute Ausstellung so viele Besucher hat.

Warum war die Arbeit an einem bestimmten Punkt zu Ende?

Nachdem ich in Burma fast erwischt worden war, wurde mir das Ganze langsam zu heiß. Ich wollte auch nicht als der Massensender in die Kunst einsortiert werden. Das hat mich nicht interessiert.




Im Bauch der Diva

Anscheinend hast du ein ziemliches Talent und genießt es, dich in Strukturen hineinzudenken?

Das ist sicher auch das Brasilianische. Du musst hier im Alltag ziemlich kreativ sein, ständig Strategien entwickeln, wenn du etwas erreichen willst. Das Illegale ist sehr legal. Ich meine, wer ist hier legal? Das gibt es fast gar nicht.

Die meisten brasilianischen Künstler scheinen diese Flexibilität in ihrer Arbeit aber kaum umzusetzen. Viel von dem, was ich gesehen habe, wirkt eher humorlos, etwas formal und meist gar nicht verspielt. Ich habe den Eindruck, diese Energien werden oft vom Alltag absorbiert, oder in der Kunst wird genau das Gegenteil praktiziert – fast so, als solle die Kunst eine Insel der Ordnung in dieser sehr informellen Gesellschaft bilden.

Ich hatte das Glück, hier rauszukommen. Wir sind eine kolonisierte Kultur. Hier gehen die meisten Künstler weiter davon aus, dass sich da draußen in Amerika und Europa das Paradigma des Kunstsystems befindet. Da die meisten aus wirtschaftlichen Gründen kaum reisen können, transportieren sich diese Strukturen vor allem über US-amerikanische Kunstmagazine, wie Artforum oder Art in America, und damit kommt eine Denkweise, die auf den White Cube fixiert ist.

Du bist vor vier Jahren nach Brasilien zurückgekehrt. Hier warst du seitdem weniger als Produzent aktiv denn als Ausstellungsmacher. Wie kam es zu diesem Wechsel?

Die Rückkehr hatte persönliche Gründe, meine Mutter war krank, sonst wäre ich in Europa geblieben, aber so war ich halt hier. Ich habe ziemlich schnell gemerkt, wie fragil das System hier ist: es gibt keine Kunstzeitschriften, keine bereisten Kuratoren und inhaltlich sind viele Ausstellungen fragwürdig. Dem wollte ich etwas entgegensetzen und begann in meiner Wohnung Ausstellungen zu machen. Zuerst lud ich Anna Infante, eine junge brasilianische Künstlerin, die das erste Mal eine Arbeit öffentlich zeigte, und Ricardo Basbaum, einen Künstler aus der "achtziger Jahre Generation", der bis dahin vor allem Insidern bekannt war, ein. In der zweiten Ausstellung habe ich Andrea Fraser, die hier noch niemand kannte, und Marcel Dzama, einen kanadischen Zeichner gezeigt.
Langsam lernte ich die Szene hier besser kennen. Ausgestellt habe ich aber vorwiegend jüngere Künstler, da mir die achtziger Jahre-Generation größtenteils merkwürdig stehen geblieben scheint. Ich möchte diesen jüngeren Künstlern ein wenig auf die Beine helfen.

Das ist aber ein ziemlich deprimierendes Bild, ab dreißig wird man ein fader Künstler.

Das hat hier schon konkrete politische und ökonomische Gründe: Die Militärdiktatur hat ein Loch hinterlassen und du musst dir klar machen, dass außer einigen teilweise recht erfolgreichen Malern, fast niemand aus dieser Generation je etwas verkauft hat. Hier gibt es nur einen kleinen Markt für Kunst. Auch gibt es nur ein überschaubares, sich kaum veränderndes Publikum. Hätten diese Künstler andere Bedingungen gehabt, wären sie jetzt sicher woanders. Aber wenn niemand darüber schreibt, keine Galerien darum konkurrieren, die Institutionen kaum Geld haben, um etwas zu unterstützen, höhlt das die Leute auf die Dauer aus.

Mein Eindruck ist auch, dass die Energie, aus der sich die Kunst hier speist, oft eine sehr adolescente ist. Die Kommen durch die Bank aus der Mittel- und Oberschicht, dadurch haben sie einerseits eine Sicherheit, die sie meist nicht verlassen, sondern von der sie sich tragen lassen. Man trifft hier fast nie jemand, der mit seiner Familie gebrochen hat. Andererseits reiben sich die meisten, zumindest eine Weile, an dieser etwas gedrückten und paranoiden, sich hinter Gittern und Wachmännern verschanzenden Mittelklassewelt. Die Reibung führt aber selten zu einer expliziten Kritik, sie findet eher in Gesten und Attitüden statt, als dass sich daraus eine tragfähige Arbeit entwickelt.

Ja, das ist total verwoben und stimmt einfach. Das ist der Grund, warum ich mich hier auch mit meiner Arbeit raushalte, da mein Umgang mit der Illegalität vor diesem Hintergrund vollkommen missverständlich wirken würde.

Ökonomisch funktioniert Entertainment Projects wie ein Kunstverein, wobei es diese Form in Brasilien, bis auf einen Fotoclub in St. Paulo bisher nicht gab. Du sprichst oft von der Galerie, versuchst du, die Sachen, die du dort zeigst, auch zu verkaufen?

Ich würde gern verkaufen, aber bisher klappt das nicht, und ich verspreche mir da auch nicht allzu viel. Die Mitglieder bekommen einmal im Jahr von uns eine Arbeit – meist Multiples. Aus diesen Einnahmen finanzieren wir das Programm. Mir geht es darum, in diesem Raum langfristig ein Konzept zu behaupten, das sich kritisch mit künstlerischen Positionen auseinandersetzt, da ich der Meinung bin, dass es das hier nicht gibt.

Vielen Künstlern scheint eine Sprache zu fehlen, in der sie ihre Arbeit verbal vermitteln könnten. Es bleibt meist bei Aussagen, wie: Das habe ich so und so gemacht, und dann habe ich das gemacht.
Rührt das auch daher, wie der zwischenmenschliche Umgang, das Gespräch im Alltag hier funktioniert? Ich habe den Eindruck, dass in Rio eher selten diskutiert wird. Zwar sitzen die Leute sehr gern und viel zusammen, erzählen sich Geschichten, beschreiben Situationen, tauschen Informationen aus, haben Spaß, aber es gibt eine Scheu, zu viele Fragen zu stellen, vor allem sich gegenseitig zu kritisieren.

Deshalb gebe ich zu jeder Ausstellung einen kostenlosen Folder heraus, in dem ein längeres Gespräch zwischen dem Künstler und mir abgedruckt ist – nur Text. Ich hoffe, dass eine solche öffentlich gemachte Auseinandersetzung mit den Arbeiten langfristig eine Wirkung hat.

Das Denken in Kontinuität, die Vorstellung von Geschichte taucht in deinen Überlegungen immer wieder auf. Ist das eine Reaktion auf das, was du hier als Mangel erlebst?

Der Brasilianer schaut nicht gern zurück, eigentlich schaut er auch nicht gern nach vorn, sondern am liebsten auf heute.

Gibt es das von Stefan Zweig, der auf der Flucht vor den Nazis hierher kam, in dem gleichnamigen Buch beschworene Land der Zukunft nicht mehr?

Ich glaube schon, dass es das noch gibt, andererseits hat Stefan Zweig sich dann hier das Leben genommen.

Du planst seit längerem Bikini Link, eine Zeitschrift, die sich mit dem Blick auf Brasilien beschäftigen soll.

Bikini Link soll sich zur einen Hälfte aus dem Blick von Außen – Beiträgen von Künstlern, die eine Weile hierher kommen -, und zur anderen dem Blick von Innen – von Künstlern die hier leben – zusammensetzen. Es geht mir um ein Gleichgewicht, wie man gesehen wird und wie man sich selber sieht. Es ist der Versuch einer visuellen Recherche nach einer brasilianischen Identität. Ich glaube, dass wir noch immer auf der Suche nach dieser Identität sind. Der ganze soziale Zustand, die geringe Kritikfähigkeit, das alles hat seine Ursachen in diesem Mangel. Dafür gibt es historische Gründe, die Kolonisation, wir sind ein Volk, das von Ausbeutern entdeckt wurde und diese ganze Mentalität ist noch da. Das siehst du in ganz vielen Gesten, und sei bei dem Polizisten, der dir das Geld abnimmt.

Weil er seine Identität als Polizist noch nicht gefunden hat, benimmt er sich wie ein Krimineller?

Die einzigen vor denen ich hier Angst habe, sind die Polizisten. Wenn mich nachts zwei Jungs auf der Strasse angehen, denen gebe ich etwas, die haben einfach Hunger. Gut, der Polizist hat auch Hunger, aber er bestiehlt dich in doppelter Hinsicht, weil er es im Namen des Gesetzes tut, sein Wort immer kräftiger ist, als deines.

Es hat mich überrascht, wie unpolitisch viele Leute hier sind – der allgegenwärtige Rassismus wir nur wenig thematisiert, der Sexismus erst recht nicht und der drastische Kapitalismus wohl einfach als Wirklichkeit akzeptiert. Schon im alltäglichen Gespräch werden Zusammenhänge schnell psychologisiert und damit entpolitisiert. Wenn du etwas kritisierst, heißt es, du seist mit deiner eigenen Situation unzufrieden, es wird dir als Neid ausgelegt. In den wenigen, meist kleinen Buchhandlungen fällt das breite Angebot zur Psychologie und Psychoanalyse auf.

Achtzig bis neunzig Prozent der Leute, die ich kenne, machen seit Jahren irgendeine Therapie oder Analyse. Die kommen selbstverständlich durch die Bank aus der Mittel- und Oberschicht. In Europa hatte ich den Eindruck, das ist eher etwas, was man versteckt. Hier wird gern darüber geredet, die Leute finden es sexy auf einer Party zu sagen, ich mache seit fünf Jahren Lacan, und was machst du. Ich wir haben noch nicht verstanden, dass Identität nicht nur aus Individualität besteht, sondern immer auch die Frage nach der Gemeinschaft mit sich bringt. Aber hier wir ständig nach Selbstbefriedigung gesucht, sei es im Sexuellen oder in der Sonne.
Was es an sozialem Austausch gibt, das findet vor allem am Strand statt. Das ist hier der öffentliche Raum, da bekommst du die neusten Informationen. Deshalb gehen die meisten auch immer an die gleiche Stelle, da sie dadurch erreichbar werden. Auf einer Fläche von zwanzig Metern gehörst du dann dazu.

Wie viele hier sagst du: Wir sind entdeckt worden. Das berührt etwas, was ich nur schwer verstehe: Du sprichst aus der Perspektive des Kolonisierten, könntest du dich nicht auch als Kolonisator sehen?

Die Mentalität ist eher die von Kolonisierten, wir schauen nach draußen.

Vielleicht sehe ich das auch zu stark aus meiner Perspektive als Deutscher, mit einem eher schuldbeladenen Verhältnis zur eigenen Geschichte, aber hier habe ich den Eindruck, kaum jemand sieht sich auf der Seite der Täter. Auch wenn ich die Ausstellungen anlässlich der "Entdeckung" Brasiliens vor fünfhundert Jahren ansehe, wundert mich manches. Eine der Ausstellungen nennt sich Bild der Schwarzen, der Ausdruck Afroamerikaner wird hier kaum verwendet. Zu sehen ist eine umfangreiche Materialsammlung, in der sich ein weißer, oft sehr rassistischer Blick fast kommentarlos ausbreitet.

Und keiner spricht darüber, die Ausstellung wird gut besucht und damit ist es in Ordnung. Für mich sind dies alles Anhaltspunkte einer unausgelebten kollektiven Identität. Die Leute haben das Gefühl, das ginge sie nichts an. Gut, Brasilien ist Brasilien und alle Brasilianer Brasilianer, aber was es heißt, als Einzelner Teil einer großen Gemeinschaft zu sein, das fehlt uns.

Ist das ein Grund dafür, dass die Stadt, besonders Rio, zu so etwas wie einer geteilten Identität wird? Die Leute, die hier wohnen, die Carioca, reden ständig über Rio. Manchmal habe ich das Gefühl, im Bauch einer Diva zu wandeln und von allen Seiten erklingt dieser Singsang, der sich aus den Namen der Stadtteile zusammensetzt – Copacabana, Ipanema, Leblon -, und die Bewegung der Menschen durch die Stadt beschreibt.

Das hat hier wirklich etwas Libidinöses, diese Liebe zur Identität. Als Individuum ist der Carioca sicher sehr selbstbewusst, aber wenn man von einer größeren Ordnung spricht, dann ist er verloren, er kann sich nicht mehr verteidigen, weiß nicht mehr, wie er sich benehmen soll. Deshalb geht er auch nicht aus politischen Gründen auf die Strasse.



Eine Karte mit vielen Schlüsseln

Ein Aspekt, der in unterschiedlicher Form sowohl in deiner wie in meiner Arbeit immer wieder auftaucht, ist, dass wir mit unserer Identität als Künstler pokern. Ausreizen, wie weit sich diese verlassen lässt und was dann von ihr noch übrig bleibt. Mal ist es die Neugier, die auf diese Abwege treibt, mal sind es ökonomische Gründe, mal die Unlust innerhalb des Kunstbetriebes zu arbeiten.
Irgendwann stellt sich die Frage, wie weit kann ich gehen, wann höre ich auf, Künstler zu sein und verschwinde in einer anderen Form. Einiges von dem was du oder ich tuen hat auch nichts mehr mit Kunst zu tun. Immer wieder entstehen aber Arbeiten, die sich weder aus der Kunst allein heraus entwickeln ließen, noch aus dem Feld mit dem man sich vermischt hat. Diese Perspektiven aus Zwischenbereichen interessieren mich. Denkweisen, die sich nur aus dem Potential der Kunst entwickeln lassen, die aber durch andere Denk- und Produktionswirklichkeiten eine Verdrehung erfahren. Diese Aspekte tauchen auch in der Karte auf, an der wir beide momentan arbeiten.

Erst mal ist das ja ein ganz gewöhnliches Tourismusprodukt, vielleicht etwas handlicher, anders gestaltet und mit etwas spezielleren Informationen, das wir auf den Markt bringen wollen. Ob die Touristen, die diese Karte benutzen, diese als künstlerische Arbeit wahrnehmen ist, ist zweitrangig. Sie finden sie vielleicht etwas ungewöhnlich, aber halten sie einfach für ein neues Produkt auf dem Markt. Das ist für mich eigentlich das Schönste an diese Arbeit, dass sie als Kunst verschwindet, ganz normal werden kann. Wobei ich das nicht als Kritik verstehe, sondern das Eröffnen einer neuen Möglichkeit. Es ist ein Vehikel, ein Gebrauchsgegenstand, der als Rahmen und Träger für eine künstlerische Arbeit funktioniert: genauer die Beschreibungsversuche von Künstlern, wie sie sich durch diese Stadt bewegen.
Dieser Rahmen, ein Stadtführer, also Dienstleistungsobjekt, soll als Serie erscheinen und später von anderen Künstlern und Künstlerinnen gefüllt werden.

Was mich an der Nullnummer, die wir nicht nur als Rahmen, sondern auch inhaltlich gemeinsam gestalten werden, besonders interessiert, ist der Dialog unserer beiden Perspektiven: du, als jemand, der hier geboren wurde, die Stadt sehr genau kennt, dessen Bewegung darin aber auch von Routinen geprägt ist, und ich, der vor zweieinhalb Monaten hier angekommen ist und auf unterschiedlichsten Wegen versucht, in diese Stadt einzutauchen. Ein Dialog von Innen- und Außensicht.
Die Ursprungsidee, die ich, obwohl sich das inzwischen schon einige Male gedreht und gewendet hat, immer noch nicht ganz verwerfen möchte, war acht Taxifahrten herauszuarbeiten, die wiederum sechszehn signifikante Orte miteinander verbinden, die so etwas wie die Quersumme der Stadt bilden könnten. Dazu kommt inzwischen etwas, das ich an meiner eigenen Bewegung durch die Stadt zunehmend beobachte: Jeder Tag, bei mir sind es eher die Nächte, an dem ich in Rio unterwegs bin, verbindet sich mit einer Geschichte. Bewegung durch Stadt kommt mir hier fast vor wie das Sammeln von überraschenden, oft absurden, nicht selten verwirrenden, dabei aber meist genauso signifikanten Geschichten. Begebenheiten, die ich selbst erlebe oder die mir zugetragen werden. Bündelungen von Umständen, die durch die Bewegung einer urbanen Geographie bestimmt sind und diese Geographie gleichzeitig abbilden. Ich stelle mir vor, dass diese Geschichten eine Art Schlüsselbund zu der Karte bilden.

Du hast gesagt, du siehst Rio wie eine Diva, ein wenig sehe ich die Karte auch so. Was mir an dem Bild gefällt, ist, dass die Stadt zu einem Charakter wird, indem wir wiederum Identitätsspiele treiben, indem wir in diesem Körper herumreisen, diese Fahrten verzeichnen, also immer wieder neue Identitäten aus ihm herauslösen.

Wobei ich manchmal den Eindruck habe, dieser Körper tut das fast schon wie von selbst. Mich fasziniert, wie diese Stadt sich permanent umwälzt, von ihren Bewohnern neu erfunden wird, indem sie ständig neue Territorien abstecken. Die Spuren liegen dabei seltsam offen, werden nicht verwischt.
Auch gibt es kein urbanes Konzept, und wenn es mal eines gibt, wird es umgehend unterlaufen, wie in Barra de Tijuca, wo heute zwei Millionen Menschen an einem Ort leben, der für eine halbe Million geplant wurde. Die sozialen Schichten befinden sich auf einer ständigen Wanderung durch die Stadt. In dem Stadtteil St. Theresa ist der Reichtum, den es hier vor achtzig Jahren gegeben haben muss, noch an der Architektur abzulesen, obwohl der Stadtteil zwischenzeitlich völlig herunterkam, noch heute von Favelas eingekreist ist. Die Form, in der sich soziale Gruppen Territorien aneignen, wirkt kaum reguliert, mag hier noch so viel Polizei herumfahren.

Besonders deutlich wird, was du beschreibst natürlich an den Favelas, wo die ganze Architektur zu einem amorphen, permanent wachsenden Körper wird, der Staat nahezu keinen Zugriff mehr hat, sich selbstorganisierende Gemeinschaften entstehen. Die Verhältnisse verändern sich dort schlagartig, wenn ein Drogenbaron stirbt und damit die Macht auf einen anderen Hügel springt, der in einem ganz anderen Teil von Rio liegen kann. Dies wirkt sich dann wiederum auf die angrenzenden Stadtteile aus. In den Nachbarschaften mächtiger Favelas fallen die Mietpreise sofort in den Keller, die Leute ziehen einfach weg. Diese Dynamik sozialer Kräfte wird nur sehr bedingt von den Reichen oder vom Staat bestimmt. Zwar gibt es inzwischen einige staatliche Initiativen, die versuchen, die großen Favelas durch Strassen zu teilen und damit auch der Polizei bessere Zugriffsmöglichkeiten zu verschaffen, aber das scheitert meinst an der Widerspenstigkeit der verwobenen Architektur der Favelas.

Die Stadtpläne, die hier zu kaufen sind, enthalten immer eine Fülle weißer Flecken, in denen nur das Wort Favela steht. Die Stadt scheint aus einer sozialen Perspektive karthographiert. Haben die Favelas ihre eigenen Karten?

Soweit ich weiß, gibt es diese Karten nicht. Ich habe mal versucht, eine solche Karte anzufertigen, daraus wurde aber nichts. Es gibt hunderte kleiner Strassen, die keine Namen haben, du orientierst dich über die Bewohner, also in dem du weißt, wo jemand wohnt, wenn du überhaupt reinkommst.

Heute werden die Favelas noch als Problem betrachtet, sie könnten sich aber bald zu einem starken Anziehungspunkt entwickeln und in der Zukunft die besten Stadteile werden, mit schönen organischen Bauten in den besten Lagen. Vielleicht entdeckt man sie als die Vorlagen einer neuen Gesellschaft?

Mir scheint das gar nicht abwegig, da diese Architektur nicht mehr auf die Trennung in Kleinfamilien angelegt ist, sondern offen ist für andere, auch größere Formen von Gemeinschaft, sich flexibel neuen sozialen Organisationsformen anpassen können.

Da sich ihre Haut nun wirklich in Wohlgefallen auflöste, stiegen sie aus dem Pool, ließen sich am Rand von der Sonne trocknen und bemerkten, dass der Tag bald zuende sein dürfte.