Christoph Doswald

Die Landschaft: Visuelle Mehrheitsfähigkeit als Medien(t)raum(a)?


Es war ein gewöhnlicher Sommertag auf dem Furkapass. Bergdohlen zogen ihre Kreise, Radfahrer schwitzten in den Kehren der Passstrasse, amerikanische Touristen genossen das Bergpanorama und ritzten ihre Namen ins Holz der Terassenabschrankungen. Eigentlich wäre alles wie immer gewesen: bedächtig, beschaulich, idylisch. Und doch hatte sich über Nacht etwas verändert. Am Rande des grossen Carparkplatzes, dort wo die Chauffeure nach dem anstrengenden Aufstieg eine Pinkelpause einlegen, tauchte plötzlich ein vermeintliches Werk des längst verstorbenen Schweizer Künstlers Ferdinand Hodler auf: ein grosser grauer Granitbrocken, unzweideutig mit der Signatur des Artisten versehen. Was den Touristen beträchtliches Kopfzerbrechen verursachte - Hodler (1853-1918) kennt man als Landschaftsmaler und nicht als Installationskünstler - entpuppte sich bei genauerem Betrachten allerdings nicht als kunsthistorische Sensation, sondern als waschechte postmoderne Mimikry. Den Frevel am helvetischen Nationalmaler, der für heroische Briefmarkenmotive und das Marignano-Bild im Schweizer Landesmuseum verantwortlch zeichnete, hatte sein schottischer Berufsgenosse Ian Hamilton Finlay begangen.

Dass sich zeitgenössische Künstler wie Finley wieder vermehrt mit dem lange Zeit verpönten Alpen- und Landschaftsmotiv befassen, ist relativ neu. Dass sie diese Auseinandersetzung mit Witz, Ironie und in grossem Masse betreiben, belegt eine beträchtliche Zahl von Ausstellungen zum Thema. »Wasteland - Landscape from now on« (Rotterdam, 1992), »(Landschaft) mit dem Blick der 90er Jahre« (Koblenz/Berlin, 1995), »Die Schwerkraft der Berge« (Aarau/Krems, 1997) und »Alpenblick - Die zeitgenössische Kunst und das Alpine«. Die Präsentation, notierte Kurator Wolfgang Kos, »handelt von einem Bildverbot und seiner Überwindung« . Verbot? Tatsächlich haben sich viele Künstler lange Zeit um Berg- und Landschaftssujets foutiert. Mit dem Beginn der klassischen Moderne in der Kunst und mit der zunehmenden Industrialisierung der westliche Welt standen andere Themen im Zentrum der Auseinandersetzung: die Waren- und Konsumwelt bei der Pop Art, das Unterbewusstsein bei den Surrealisten, die Kunst-Existenzfrage bei den Konzeptualisten, der Krieg und die Industrialisierung bei den Kubisten. Die Landschaftsmotive dagegen, von der Romantik im 19. Jahrhundert verklärt, vom aufkommenden Massentourismus vereinnahmt und von reaktionären Kreisen ideologisiert, waren für die modernen Künstler kein Thema. Es sei denn als reines Ornament: Er habe, sagt Gerhard Richter, in den sechziger Jahren Städte und Alpengipfel gemalt, weil dies »nichtssagendes Zeug« sei.

Erst heute, im Zeitalter der Medien und der grassierenden Postmoderne, fällt das Künstlerauge wieder vermehrt auf das verpönte Sujet. Das ist kein Zufall. Denn die Suggestivkraft der Landschaft ist ungebrochen, ihre Beliebtheit als massenmediales Sujet ganz einfach nicht auszurotten. Wer jemals ein Bild des Matterhorns gesehen hat, wird es nie vergessen. Die Diskussion von Trivial-, Kitsch und Alltagsmotiven, die in den achtziger Jahren im Zeichen der Postmoderne einsetzte, verhalf der Landschaft zu einem nachhaltigen Comeback. Nicht mehr die Suche nach dem Einzigartigen wie sie die Romantiker pflegten, sondern die Extraktion von besonders weit verbreiteten und bekannten Sujets beschäftigt heute die Künstler. Das Zürcher Künstler Duo Fischli/Weiss fotografiert beispielsweise mit Vorliebe populäre Postkartenmotive wie die Pyramiden von Gizeh, die Steinkreise von Stonehenge oder das Matterhorn. »Uns interessieren Bilder«, sagen sie zu ihrer Vorliebe für die visuelle Mehrheitsfähigkeit, »die sich herausgeschliffen haben im Laufe der Zeit.«

Das aktuelle Bild der Landschaften zeitigt akute Entfremdungs-, sprich Mediatisierungserscheinungen. Ähnlich wie der Navigator eines Schiffes das Meer mithilfe des Radarbildes betrachtet, dabei aber auch noch die Postkartenimpressionen der Karibikreportage von GEO im Gedächtnis hat, sind die Eindrücke, die wir von der Natur besitzen, vor allem anderen keine unmittelbaren, sondern durch die Technologie bestimmte, ver- und übermittelte Erfahrungen. Und dies in mehrfacher Hinsicht und nicht nur in Bezug auf die herkömmlichen Medien. Nehmen wir beispielsweise die weit verbreitete automobilisitische Wahrnehmung. Sie wird durch die Frontscheibe begrenzt, durch die Reisegeschwindigtkeit fragmentiert, ist nach vorne gerichtet, schlängelt sich dem Asphaltband entlang. Der Blick taucht ins Schwarz des Tunnels oder verliert sich im Blau des Himmels, wenn die Strasse über einen Brückenviadukt steil bergan führt. Die automobilistische und strassenbauerische Technik prägt die Optik, die Geschwindigkeit reduziert und abstrahiert die Wahrnehmung - Landschaftszapping am Schaltknüppel, die Road-movie-Perspektive als Naturersatz.

Diese indirekte Art der Wahrnehmung - im klimatisierten Inneren eines weich gefederten Mobils ohne taktile Verbindung zur unmittelbaren Realität - lässt sich aufs Zugfahren, aufs Fliegen aber auch auf die primären Bildmedien (Postkarten, Briefmarken, Zeitungen, Illustrierten, Fernsehen, Film und neuerdings das Internet) übertragen. Die Technik und ihre Schöpfer bestimmen in weiten Teilen unser Bild - schon Vilém Flusser prophezeite: »Die Leute, welche die Kameras bauen und füttern, sind die Programmatoren der Bilder [] die eigentlichen Bildermacher« - und dies nicht nur im mediatisierten Sinn, sondern auch in Bezug auf die Bildquelle selbst. Die Landschaft hat sich der Maschine zu fügen. Wenn also der Bauer mit seinem grossen Traktor die Felder bewirtschaftet, dann muss die Topographie geglättet werden, damit sich das moderne Gerät auch auszahlt und das Land schneller bearbeitet werden kann. Melioration, also Verbesserung, wird diese geographische Kosmetik im Fachjargon der Landschaftsingenieure genannt. Realität und Bild sind also gleichermassen den Mechanismen der »Schönung«, Glättung und Entwirklichung unterworfen.

Ausgehend von dieser techno-medial geprägten Optik haben einige Gegenwartskünstler ein Landschaftsbild entworfen, das eine andersartige, kaum verklärte, manchmal geradezu banalisierte Perspektive entwickelt und sich grundsätzliche Fragen zur Konstruktion, Repräsentation und Wahrnehmung von Landschaft stellt. Der Südtiroler Fotograf Walter Niedermayr dokumentiert beispielsweise mit seinen eindringlichen Fotos die stahlstarrende Eroberung des Hochalpinen durch die skilaufende Sport- und Freizeitgesellsschaft und hat dabei ein oeuvre geschaffen, das nicht alleine anklagt, sondern dem menschlichen Herrschaftsdrang auch eine, zugegebenermassen, morbide Schönheit zugesteht. Niedermayr formuliert mit seinen eindringlichen Fotoinstallationen sozusagen eine ästhetische Antipode zum touristischen, automobilistischen und medialen Belvedere des ausgehenden 20. Jahrhunderts. »Dem Künstler geht es «, schrieb Carl Aigner treffend, »um eine differenzierte und subtile Spurensicherung und um eine nuancierte Wahrnehmungsarbeit, die im Zusammenhang mit den Landschaftsveränderungen auch das Verschwinden des Sichtbaren registriert.«

Die Wiener Künstlerin Siegrun Appelt geht ebenfalls einer vollkommen unspektakulären Tätigkeit nach. Sie setzt sich in den Zug, befährt eine Strecke von A nach B - momentan zwischen den am Arlberg liegenden Bahnstationen St. Anton und Landeck - und hält ihren jeweils wechselnden Fensterausblick mit der Video- oder Fotokamera fest. Dabei entstehen Bilder aus der Optik des »apparativen Blickes«, die das menschliche Auge in dieser Form nicht festzuhalten imstande ist, weil die Geschwindigkeit des Reisens dies nicht zulässt. Das Objektiv der Videokamera, einmal justiert, bleibt starr. Die Brennweite fokussiert auf grosse Distanz, so dass die Nahsicht nurmehr als malerische Verwischung im Bild erscheint. Allerdings, und das zeigt sich als Spezifikum in Appelts Werk, kann die Kamera nicht immer ungehindert »durch die Glasscheibe hindurchsehen«, sondern notiert auch jene miniminen Lichtreflexe auf dem Glas, welche die Retina ob der vorbeiziehenden Motivik ignoriert. Wenn die Kamera nicht nur die Aussenwelt, sondern auch die im Zugsfenster gespiegelte Innenwelt des Abteils dokumentiert, gerät die Fensterscheibe gar zum regelrechten Bildschirm-Screen, zum optisch wahrnehmbaren Raumteiler. Das Landschaftsbild, das uns die Künstlerin vor Augen hält, ist also ein in doppelter Hinsicht mediatisiertes.

Der Effekt der doppelten Mediatisierung tritt am Ende des 20. Jahrhunderts verstärkt auf. Das hat einerseits mit der Popularisierung der digitalen Bildmedien zu tun, hängt anderseits aber auch mit einer Peinturisierung der Fotografie, der visuellen Neubeurteilung des Naturbegriffs wie sie der spanische Künstler Javier Garcera mit somnambulen düsteren Endzeitstimmung pflegt, vor allem aber mit der medienreflexiven Thematik zusammen, der sich die Künstler in Zeiten neuer Abbildungsinstrumente mit Vorliebe widmen. In diesem Zusammenhang sei es erlaubt, einen Blick in die Vergangenheit zu tun. Die Erfindung der Fotografie datiert vor etwas mehr als 150 Jahren und koinzidiert, welch ein Zufall, auch mit der ersten grossen Welle der Alpenbegeisterung. Ein Zufall? Wohl kaum, wenn man um die vermittelnden, massenmedialen Möglichkeiten weiss, welche die neue Bild-Reproduktionstechnik der aufstrebenden Tourismusindustrie in die Hände spielte. Zwar verharrten die Bildträger (Plakate, Briefmarken und Radierungen) meist noch lange in den traditionellen Disziplinen - so als ob die Aura der Berge nur mit der Aura der Kunst gefasst werden könnte. Doch die neue Technik erkämpfte sich im Geheimen eine einflussreiche Stellung. So weiss man heute, dass Franz von Stuck seine Gemälde vornehmlich mithilfe fotografischer Stilstudien malte. Und gerade eben ist bekannt geworden, dass Joseph Nieriker (1828 - 1903), einer der bekanntesten Schweizer Gebrauchsgrafiker, dessen Xylographien in vielen Haushaltungen die gute Stube schmückten, sich bei seiner Kunst vornehmlich auf fotografische Vorlagen stützte. Nieriker bereiste im Auftrage von Verlagshäusern und Zeitungen die Schweizer Alpen. Und weil dies ein Brotjob war, diente ihm die Fotografie als praktisches und schnelles Hilfsmittel zur Bild-Umsetzung in einer älteren und wohl auch besser zu kommerzialisierenden Technik, dem Holzstich. Nieriker, gleichsam populärer Illustrator und elitärer Absolvent der Münchner Kunstakademie, erkannte wohl die Qualitäten des technisch Neuen, beugte sich jedoch im Zeichen der Kulturökonomie dem konservativen Wahrnehmungsmarkt.

Analoges vollzieht sich heute. Nur: Der Hunger nach Bildern, nach malerischen und gegenständlichen Motiven, wird nicht mehr von der Malerei befriedigt, sondern von Künstler-Fotografien, die, dank der multimedialen Blackbox namens Computer und anderen Hilfsmitteln, zeitgemäss und dennoch gewissermassen traditionell operieren - sozusagen eine Simulation der Simulation betreibend. Siegrun Appelt belegt ihre Fotos beispielsweise mit mehreren Zentimeter dicken Plexiglasplatten, welche die sonst glatte Bildoberfläche mit Tiefenwirkung versehen. Referenz an eine vertraute Optik und an die bekannte Motivik erweist das spanische Künstlerpaar Maria Bleda und José M. Rosa, die im Stile der Bechers alle wichtigen Schlachtfelder der spanischen Geschichte dokumentierten und dabei einen sattsam bekannten visuellen Topos in die Jetztzeit übersetzen. Auch der Schweizer Künstler-Fotograf Stefan Banz beschäftigt sich mit fest verwurzelten Bildern. Die Schnappschussbilder, denen er sich seit rund zehn Jahren bedient, dokumentieren sein eigenes familiäres Umfeld und schliessen dabei auch die Gegend um Luzern, die geographische Heimat des Künstlers ein. Indem Banz mit seinen Kindern auf den Pilatus fährt, dort fotografiert, simuliert er die Optik jener Abermillionen von Touristen, welche die pitoreske Luzerner Landschaft zum prototypisch verkörperten Alpenbild verklären und Jahr für Jahr das von Postkarten und Werbeplakaten weltweit verbreitete Idyll mit den eigenen Kameras einzufangen suchen.

Der österreichische Künstler Günther Selichar geht hingegen einen anderen Weg, kehrt die Entwicklung der Kunst quasi um. Er materialisiert seine Landschaftsfotos mittels Inkjet auf herkömmlichen Leinwänden. Den Effekt, den die separat aufgetragenen und erst auf der Leinwand sich mischenden Farben erzielen, ist - wenngleich maschinell hervorgerufen - ein malerischer. Selichar beschreitet den umgekehrten Weg der Mediatisierung, praktiziert in der Umkehr der Bildab- und -herleitung eine sich ständig transformierende Selbstbespiegelung, die, trotz ihrer konzeptionellen Stringenz, offenkundigen Selbstreferentialität und assoziativen Logik kaum endgültige Schlüsse ermöglicht, sondern im Gegenteil auf die sich beschleunigende Relativität von Ursache und Wirkung unseres Bewusstseins im Umgang mit (Kunst-)Bildern verweist.

Analog dazu generiert der deutsche Künstler Gert Rappenecker Rekontextualisierungen von massenmedial vereinnahmten Alpensujets. Als Ausgangsmaterial dienen ihm prototypische Landschaftsbilder, die er in Tourismusprospekten findet. Den derart selektierten Motiven eigne eine »Bildmagie« wie Rappecker erklärt, »eine Hervorrufung von Sehnsucht« beim Betrachter. Landschaft sei eine »Projektionsfläche für etwas, das über die Wirklichkeit hinausgeht.« Indem der Künstler die Vorlagen zuerst mittels der Xerokopie reproduziert und danach mit Pinsel und Farbe bearbeitet, strapaziert er die Verunklärung des Realen in doppelter Hinsicht. Zum einen werden die Motive mit dem Fotokopierer, einem massenmedialen Instrumentarium, abstrahiert und dem Ort des Bildursprungs gezielt entzogen. Zum anderen führt der Künstler die heimatlosen Bildern mittels seiner malerischen Applikationen wieder einer subjektiven Identität zu, verhilft ihnen also gewissermassen wieder zu jener paradoxen Aura, die ihnen im Zeitalter der Bilderflut abhanden gekommen ist.

Der Computer und andere technische Mittel bewirken wie vormals die Fotografie die Hybridisierung der Kunstdisziplinen. Fotos werden mittels Videotechnik projieziert, Videosequenzen aus dem Bilderfluss herausgelöst, vergrössert und als Prints materialisiert. Dass darob die Reflexion über den Ursprung, die Machart und die Wirkung der Motive bei einem wichtigen Teil der aktuellen Kunst im Vordergrund steht, ist evident. »Es geht«, wie Horst Bredekamp sagte, »um ein Reflektieren der Veränderungen des Bild- und des Kunstbegriffs.« Bevorzugt untersucht werden Sujets, denen ein hoher Wiedererkennungsgrad zukommt, die im visuellen Vokabular einen festen Platz halten. Zu diesem optischen Grundwortschatz zählen in hohem Masse auch die Landschaftsmotive. Darauf verwies Rémy Zaugg mit einer Arbeit, die er im Rahmen des Furkart-Projektes ausführte. Beim Eindunkeln stellte sich der Schweizer Künstler mit Staffelei und Leinwand in der Tradition der Plein-air-Maler auf einen markanten Landschaftspunkt, der den Blick auf ein herrliches Panorama freigab. Doch seine Malerei, die er in der Folge in Angriff nahm, referierte nicht auf diese eine, vor ihm liegende, unmittelbare und physische, sondern auf eine mediatisierte Realität: Er projezierte ein vorher angefertigtes Dia auf die weisse Leinwand und orientierte sich mit malerischen Gesten an dieser fotografischen Vorlage. Während der Aktion entstand der Eindruck, Zaugg würde ein figuratives, detailgetreues Gemälde schaffen. Doch als der Projektor ausgeschaltet war, standen Maler und Betrachter gleichermassen vor einer weissen Leinwand. Der Künstler hatte ohne Farbe gemalt. Zauggs Performance verweist - obwohl letztlich ein herkömmliches Tafelbild daraus resultiert - auf die unerhörte visuelle Vereinnahmung der Natur durch die neuen und wie auch durch die alten Medien. »Kunst«, bemerkte der deutsche Kulturkritiker Dieter Wellershoff in diesem Zusammenhang bereits vor zwanzig Jahren, »ist nicht mehr das wesentliche Bild der Wirklichkeit, sie repräsentiert keinen idealen Anspruch mehr; sie ist nur noch inszenierte Wahrnehmung.«

Erstveröffentlicht in: Neue Bildende Kunst 1998