Samuel Herzog

Wunderkammer mit Schwein

Harald Szeemanns «Belgique visionnaire» in Brüssel

Belgien feiert seinen 175. Geburtstag mit einem Reigen von mehr als sechzig Ausstellungen. International am meisten Beachtung dürfte dabei die letzte Schau des Schweizer Kurators Harald Szeemann finden. «La Belgique visionnaire» präsentiert Hunderte von Objekten - eine Annäherung an das Belgische über seine Ausnahmeerscheinungen.
Flüsternd huschen Figuren durch den Nebel. Sie sehen aus, als bestünden sie aus grauem Staub. Scheu treten sie von dem weissen Dunst in den gelben über, um alsdann im Rot zu verschwinden. Ein zaghaftes Schreiten durch die Farben der belgischen Flagge - beinahe jedenfalls, denn für ihre Installation aus künstlichem Nebel hat Ann Veronica Janssens das Schwarz der Fahne durch weissen Dunst ersetzt. Wo die Sicht so arg eingeschränkt ist, muss man eigene Visionen entwickeln, muss die Phantasie das Erahnbare zu einem Bild der Welt ergänzen.

Künstliches Belgien

Die eigenen Visionen, die eigenen Weltansichten sollte man auch sonst beim Besuch von «La Belgique visionnaire» nicht ganz ausser acht lassen - anderenfalls verliert man sich wohl schnell einmal völlig in dem assoziativen Gespinst, das der kürzlich verstorbene Kurator Harald Szeemann in den Brüsseler Palais des Beaux-Arts eingewoben hat. Hunderte von Kunstwerken sind in den eher kleinen Räumen dieses aberwitzigen, mit seinen Kurven und Gängen ohnehin ziemlich unübersichtlichen Jugendstilpalastes versammelt. Neben Kunst gibt es auch Filme zu sehen, Aufnahmen von Theater- und Tanzaufführungen, Werbeplakate, Architekturmodelle, historische Dokumente, ganze Archive usw. All dies rückt auf relativ engem Raum zusammen, schafft Atmosphäre, spürt auf mannigfaltige Weise dem Belgischen im Belgischen und auch etwas weniger Belgischen nach.
Den weiteren Rahmen für diese Schau stellen die Feierlichkeiten zum 175. Bestehen Belgiens dar - ein Umstand, auf den einzelne Künstler auch mehr oder weniger direkt reagieren. Johan Van Geluwe etwa mit seinem Schild «Belgium is ART-ificial since 1830», das allerdings schon zum 150. Geburtstag 1980 entstand. In seinem «Museum of Museums» («M. O. M.») zeigt der Architekt und Mail-Artist ausserdem verschiedene belgische «Museen»: etwa die kunstvollen Einrichtungen in kleinen Privatgärten oder eine Sammlung von Schmuckpfeifen, die wohl nicht geraucht werden können - ein Augenzwinkern hin zum grossen Landsmann Magritte. Zudem sehen wir im «M. O. M.» den Künstler und uns selbst: ihn mit Knochen im Mund und einer Schleife in den Nationalfarben um den Hals, uns in einer Rekonstruktion des prächtigen Spiegels aus Jan van Eycks Arnolfini-Hochzeit. Wenigstens im Spiegel wird so ein jeder zum Künstler.
Gleich nebenan taucht Georges Adéagbo tief in ein mehrheitlich trübes Kapitel der belgischen Geschichte ein. Mit zahllosen Dokumenten und Objekten, die am Boden ausgelegt und über die Wände verteilt sind, erinnert er an die «Colonisation belge en Afrique noire»: Masken und ein Leopardenfell haben da ebenso ihren Platz wie Zeitschriften und Bücher, Zigarettenstummel und Schallplatten, Bierdosen und Geldscheine, Puppen und Knochen. Ein weiteres «Museum» hat Guillaume Bijl geschaffen. In einem dunkelrot ausgemalten Raum stehen Vitrinen, in denen er seine «Souvenirs des 20. Jahrhunderts» präsentiert: die Schreibmaschine von Robert Musil und einen Büstenhalter von Madonna, den Füller von Konrad Adenauer, Gandhis Brille und Mussolinis Helm - ja auch der Ventilator vom Schreibtisch des Tschiang Kai-schek fehlt nicht. Ob diese Dinge tatsächlich einst im Besitz der erwähnten Damen und Herren waren, sei dahingestellt - Geschichten erzählen sie allemal.
Die Schau präsentiert natürlich auch die grossen Klassiker der belgischen Kunst: surreale Malereien von Paul Delvaux, Fotos von René Magritte, Verträumtes von Fernand Khnopff, Psychographisches von Henri Michaux, Experimentelles von Pierre Alechinsky und Theatralisches von Marcel Broodthaers. Auch die Heroen der jüngeren Generation sind versammelt: Panamarenko hat einige seiner abenteuerlichen Flugmaschinen und ein Gehege mit Krokodilen inszeniert, David Claerbout dringt mit Hilfe der Videokamera in die Geheimnisse einer Klassenfoto vor, Luc Tuymans und Michaël Borremans sind mit Malereien präsent, Michel François zerknüllt symmetrisch ein Stück Alufolie, und Wim Delvoye produziert Kot mit Hilfe einer handlichen Version seiner in jedem Sinne des Wortes berüchtigten «Cloaca».
Es gehört zu den sympathischen Eigenwilligkeiten dieser Schau, dass sie den grossen Stars der belgischen Kunst kaum mehr Platz einräumt als den kleinen Meistern, den Handwerkern und verschrobenen Spinnern. Und so sind es denn auch nicht primär die Kunststücke der belgischen Protagonisten, die einem in Erinnerungen bleiben, sondern fast mehr noch bizarre Stücke wie die phallischen Kerzen aus der Kathedrale von Baarle-Hertog, die «Machine à décerveler» von Professor Dewulf oder die Dokumente einer fiktiven Vorsteinzeit von Robert Garcet.

Von Schweinen und Menschen

Ein besonders bizarres Kapitel ist dem Schwein als einem typischen Motiv der belgischen Kunst gewidmet. Als Urvater dieser Thematik erscheint Félicien Rops mit seinem berühmten «Porträt einer Dame mit Schwein». Auf seinen Spuren hat John Muyle eine Skulptur geschaffen, die ein in Lebensgrösse aufrecht stehendes Schwein über einem Trog auf Rädern darstellt: Der Bauch des Tieres ist mit Hühnereiern voll gehängt, was gleichzeitig an die Artemis von Ephesos und an Fischlaich denken lässt. Wim Delvoye hat ein paar Schweine tätowieren lassen, und Thierry Zéno macht uns mit seinem schwarzweissen Film «Vase de noces» von 1974 vor, wie surreal sich das Zusammenleben von Schweinen und Menschen gestalten kann.
Um einen möglichst repräsentativen Blick auf die belgische Seele und ihren Alltag geht es in dieser Ausstellung natürlich nicht - im Gegenteil: Szeemann hat sich auf das Bizarre und Abgründige, auf das Obsessive und Trotzige spezialisiert - ein Versuch, mit Hilfe der Sonderformen ein Porträt des Landes zu zeichnen, die Regel über die Ausnahme zu erfassen. «La Belgique visionnaire» ist die dritte «visionäre» Ländermonographie, die Harald Szeemann entworfen hat - ihr gingen Ausstellungen zur visionären Schweiz und zu Österreich voraus, die grundsätzlich ähnlich beschaffen waren. Die Schau lässt sich aber auch mit anderen Themenausstellungen Szeemanns vergleichen - etwa mit dem Projekt «Geld und Wert: Das letzte Tabu», das er für die Schweizer Expo 02 in Biel realisierte.
Der Grundsatz all dieser Unternehmen ist das Enzyklopädische und das Vertrauen darauf, dass die Dinge, wenn sie nur nahe genug zusammenrücken, auch manch aufschlussreichen Bezug erkennen lassen, manch amüsanten Dialog beginnen. Und tatsächlich: Was bei vielen Kuratoren wohl eine ziemlich belanglose Auslegeordnung geworden wäre, ist bei Harald Szeemann auf magische Weise überaus anregend. Auf unverkennbar eigene Art ist es ihm auch in Brüssel noch einmal gelungen, eine Wunderkammer zu inszenieren, durch die wir fast nur mit weit geöffneten Augen schreiten können. Das war seine grosse Kunst - und darin wird ihm wohl niemand nachfolgen können.
Samuel Herzog
La Belgique visionnaire. C'est arrivé près de chez nous. Palais des Beaux-Arts, Brüssel. Bis 15. Mai. Begleitbuch zur Ausstellung _ 15.-.


erschienen in NZZ, Feuilleton Montag, 11.04.2005 / 25