Samuel Herzog

Die grosse Schwemme - ohne Moldau

Zwei Biennalen für zeitgenössische Kunst in Prag

Prag ist berühmt für seine Brücken, seine Burg und sein Bier, seinen Kafka, seine Knödel und seine Kubisten - und bald vielleicht auch für seine zeitgenössische Kunst. Denn die Stadt bietet dem Gast derzeit nicht nur eine, sondern zeitgleich zwei Biennalen an.
Mit den Biennalen ist es ein wenig wie mit den Siedwürsten, wenn sie einmal anfangen, undicht zu werden. Kaum hat man das Leck an der einen Stelle unter Kontrolle, quillt die Masse an anderem Ort fröhlich heraus. Unter Kontrolle hat man das Kunst-Leck derzeit in Venedig gebracht, wo Rosa Martinez und Maria de Corral nach Francesco Bonamis aus allen Nähten platzender Biennale 2003 eine durchwegs übersichtliche Schau zusammengestellt haben (NZZ 11. 6. 05). Dafür aber quillt die Kunstmasse nun im schönen Prag umso wuchtiger in den immer noch zarten Sommer. Hat man sich an der Moldau doch nicht damit begnügen wollen, eine einzige Biennale ins Rennen um die Gunst des lokalen Publikums und vor allem auch der zahlreichen Touristen zu schicken - gleich zwei mussten es sein. Ob das allerdings die britischen Kampftrinker und die Hells Angels aus aller Herren Ländern interessiert, die derzeit tapfer, Pils um Pils, an der Erweiterung des tschechischen Tourismusbegriffs arbeiten, sei dahingestellt.

Disput nach Desaster

Zwei Biennalen für zeitgenössische Kunst, zeitgleich am selben Ort - so etwas passiert meist nicht ohne Grund. Den gegenwärtigen zwei zweiten Biennalen ging 2003 eine erste Biennale voraus. So soll es auch sein, wenn die Dinge ihre Ordnung haben. Im vorliegenden Fall allerdings wäre es wohl manchem lieber gewesen, diese erste Biennale hätte gar nicht stattgefunden. Organisiert worden war der Anlass von Giancarlo Politi und Helena Kontova, Herausgeber und Chefredaktorin der Kunstzeitschrift «Flash-Art», in Zusammenarbeit mit Milan Knízak, dem Generaldirektor der Prager Nationalgalerie. Die Liste der Vorwürfe, die sich die Veranstalter dieser ersten Biennale gefallen lassen müssen, reicht von organisatorischen Mängeln über schlechte Kalkulation bis zu Willkürlichkeiten bei der Katalogredaktion und respektloser Behandlung der eingeladenen Kuratoren und Künstler. Das Desaster führte dazu, dass sich die Organisatoren zerstritten - und Prag nun zwei Biennalen hat.
Die eine heisst International Biennale of Contemporary Art und findet hauptsächlich in den grosszügigen Räumlichkeiten des Veletrzní-Palastes statt. Organisiert wurde der Anlass von Milan Knízak und seinen Mitarbeitern. Mehr als dreissig Kuratoren aus aller Welt erhielten die Gelegenheit, je eine mittlere Ausstellung zu realisieren. Diese Kuratoren werden zwar zusammen mit den Ländern genannt, aus denen sie stammen - und doch waren sie offenbar nicht eingeladen, eine künstlerische Leistungsschau ihrer Heimat vorzuführen. Auf jeden Fall haben das nur Einzelne so verstanden. Alle Übrigen haben kleine Themenausstellungen mit Beiträgen von durchschnittlich je einem Dutzend Künstlern eingerichtet.
Dieses Konzept ist nicht uninteressant, verbindet sich doch so nationales Engagement mit einer gewissen Öffnung. Das ist sicher spannender als die nationalen Nabelschauen, wie wir sie etwa aus Venedig kennen. Bei dieser Menge allerdings ist man als Besucher einigermassen überfordert - gilt es doch, sich dreissigmal in ein ganz eigenes, theoretisch-thematisches Konstrukt einzuarbeiten. Einen Schwerpunkt hat diese Biennale nämlich nicht: Die gut dreissig Projekte, wie diese Ausstellungen genannt werden, treten völlig gleichberechtigt auf. Würden die Projekte etwa mit Hilfe eines Flyers etwas besser vorgestellt, könnten wir auswählen - so aber bleibt uns nur eine Möglichkeit: Wir müssen uns treiben lassen.
Vielleicht driften wir zunächst an das Ufer der Spanier, wo Paco Barragán eine Schau mit dem Titel «nEUclear reactions» zusammengestellt hat. Das auffälligste Stück ist hier ganz bestimmt ein gigantisches, rund fünf Meter hohes Schuhputzerkistchen aus Holz, das Charles Juhasz-Alvarado gebaut hat. Durch eine Türe können wir ins Innere blicken und sehen dort ein ebenfalls aus Holzplatten gefügtes, ungefähr lebensgrosses Pferd, dessen linker Vorderhuf wiederum auf einem Schuhputzerkistchen steht - den Rest der Geschichte können wir uns selbst erzählen.

Flüchtige Kunstfertigkeiten

Mit viel Körpereinsatz wird Kunst bei den Chinesen betrieben, die Lu Jie für seine Schau zum Thema «Public Realm» zusammengetrommelt hat. Qinga hat sich eine Karte von China auf den Rücken tätowieren lassen und darauf dann die Route von Maos Langem Marsch eingezeichnet. Wang Wei hat für seine Foto-Video-Installation sieben Männer engagiert, die um sich selbst herum einen allseits geschlossenen Raum aus Backsteinen bauten - um diesen «Temporary Space» alsdann mit schwerem Hammer wieder niederzureissen.
Hochsymbolisches bietet auch Oscar Muñoz in der Ausstellung «Double Vision» des schwedischen Kurators Jan-Erik Lündström. In seinem Video «Project for a Memorial» zeichnet eine Hand mit Pinsel und Wasser unentwegt Porträts auf einen Stein, die dann natürlich allmählich wieder verblassen. Um ähnlich flüchtige Kunstfertigkeiten geht es auch in der Installation «Autograph» von Tatyana Hengstler, die Milena Orlova und Alexandra Obukhova aus Russland in ihrer Schau zum Thema «Ghost Hunters» zeigen: Die russische Künstlerin hat sich darauf spezialisiert, Figuren und Szenerien in die Staubschicht auf Autotüren und Kotflügeln zu zeichnen.
Damit verwandt ist auch die Installation «Unfinished», die Isabelle Krieg zum Thema «In Times Like Are These» zeigt, das sich Nadia Schneider und Katya Garcia Anton vom Genfer Centre d'Art Contemporain ausgedacht haben. Auf einem kleinen Tisch, auf Stühlen und in halb mit Wasser gefüllten Gefässen stapeln sich zuhauf schmutzige Tassen, aus denen wohl Schokolade getrunken worden ist. Erst auf einen zweiten Blick entdecken wir in der eingetrockneten Ovomaltine-Schicht kleine Zeichnungen: Porträts von Politikern und anderen Prominenten, Männer mit Gewehren, Pressebilder eben.
Die Schweiz hat im Rahmen dieser Biennale noch einen zweiten Auftritt, den Oliver Kielmayer aus Zürich kuratiert hat - «We are the artists» lautet sein Motto. Allein im Veletrzní-Palast gäbe es noch zahlreiche weitere Kunststrände, an die man sich spülen lassen könnte. Und wer immer noch nicht genug hat, kann seine Biennale-Visite im Konvent der Böhmischen St. Agnes und im Kinsky-Palast beim altstädtischen Rathaus fortsetzen.
Diese Biennale hat ihre Mängel - daran besteht kein Zweifel. Auf ausstellungstechnischem Niveau vor allem im Veletrzní-Palast, wo die Lichtverhältnisse oft sowohl für die Videos wie an einzelnen Stellen auch für Bilder und Fotografien ziemlich ungünstig sind - mal viel zu hell, mal zu dunkel. Auch auf der Ebene der Vermittlung liesse sich einiges verbessern - vielleicht könnte man im Gegenzug beim Katalog etwas sparen, der mit seinen 828 Seiten von einer sommerlichen Bikiniform weit entfernt ist. All diesen Mängeln zum Trotz aber steuert diese Biennale auf ein gutes Niveau zu - und wenn nun auch noch die Arbeitsbedingungen für Kuratoren und Künstler annehmbar waren, dann hat diese Veranstaltung Zukunft. Hoffen wir es, denn etwas zeitgenössische Kunst tut dieser Stadt sicher gut, die sich dem Touristen sonst vornehmlich als ein Ort der Traditionen präsentiert.
So viel Positives lässt sich über die von den «Flash-Art»-Herausgebern ins Leben gerufene Prague Biennale 2 nicht sagen, die sich als trotzige Gegenveranstaltung in einer heruntergekommenen Industriehalle im Karlín-Viertel eingenistet hat. Was Helena Kontova und Giancarlo Politi hier als «second edition» präsentieren, kommt kaum je über das Niveau einer drittklassigen Kunstmesse hinaus. Die von Kontova und Politi kuratierte Hauptausstellung mit dem Titel «expanded painting» führt auf schlecht geweisselten Stellwänden mehr als hundert Maler vor, die aber fast ausschliesslich nur mit je einem Bild vertreten sind: zahllose Leinwände von ähnlicher Grösse, in regelmässigen Abständen gehängt - eine völlig ziellos wirkende Aneinanderreihung.

Geldmangel

Auch die diversen Nebenausstellungen sind mehrheitlich von einer ähnlichen Lieblosigkeit geprägt. Eine Ausnahme bilden da lediglich zwei Länderbeiträge: der recht professionell gemachte Auftritt der Polen sowie eine Schau zur «neuen tschechischen Szene», die sich ganz offenbar vor allem durch einen skurrilen Humor auszeichnet. Den Mangel an Geld sieht man dieser Veranstaltung überall an - kreativ auf diese Bedingungen reagiert hat man nicht. Dafür aber wurde viel Energie für die Polemik gegen die Veranstalter der anderen Biennale eingesetzt: Vielleicht ist es charakteristisch, dass das Pressematerial aus einem zweiseitigen Konzept und einer vierseitigen Streitschrift besteht, in der Politi einen Hagelschauer aus Vorwürfen auf die Häupter der Kuratoren der Nationalgalerie niederprasseln lässt. Egal, was an Politis Anschuldigungen dran sein mag, die Vorgehensweise ist zumindest strategisch nicht sehr geschickt. Und so könnte es also sein, dass die zeitgenössische Kunst in zwei Jahren nicht mehr gar so massiv in den Prager Sommer quillt.

International Biennale of Contemporary Art, Veletrzní-Palast, bis 11. September, Katalog. Prague Biennale 2, Karlín-Halle, bis 15. September, Katalog.



erschienen in NZZ, Feuilleton Samstag, 02.07.2005 / 45