Samuel Herzog

Ein Barthaar des grossen Welses


«Bilder vom Vierwaldstättersee» im Kunstmuseum Luzern

   Wer die Füsse in den Vierwaldstättersee streckt, der spürt den Puls der Berge an seinen Zehen und glaubt, die Heldengeschichten der frühen Eidgenossenschaft würden ihm über die Oberfläche des Wassers zugeraunt. Kein anderer See der Schweiz ist so stark mit der Geschichte dieses Landes verbunden wie der Lac des Quatre-Cantons - und doch gehört es mit zum Faszinosum dieses Sees, dass er immer auch über sich selbst hinausweist. Wer bei Luzern am Ufer sitzt, der denkt nicht nur an den See und die dahinter weit in den Himmel ragenden Berge - auch die Sehnsucht nach Süden stellt sich beim Anblick dieses Gewässers ein, das als letzter Höhepunkt des Nordens an der klassischsten aller transalpinen Routen liegt. Zu diesem romantischen Begehren passen die geheimnisvollen Lichtstaffeln, die manchmal wie eine Flucht von unterschiedlich beleuchteten Räumen über dem dunklen Wasser des Sees zu liegen scheinen.

   Die historischen, mystischen und emotionalen Bedeutungen dieses Gewässers stehen nun auch im Zentrum der grossen Sommerausstellung im Kunstmuseum Luzern, die «Von William Turner bis Kurt Felix» ganz unterschiedliche «Bilder vom Vierwaldstättersee» zusammenbringt. Einen ersten Höhepunkt der Schau stellen die idealisierten Seeansichten des Franzosen Alexandre Calame dar. Er liess sich um 1850 wiederholte Male von dieser Gegend faszinieren, die seinen Romantiker-Augen noch weitgehend unberührte Natur schien. Als Pendant aus unseren Tagen sind diesen Ölmalereien grossformatige Fotografien auf Büttenpapier von Cécile Wick zur Seite gestellt, die den See als ein dunstiges Naturereignis zeigen und Calames romantischem Blick in nichts nachstehen. Einen weiteren Höhepunkt dieser verführerischen Schau stellen Aquarelle dar, die William Turner in den frühen 1840er Jahren angefertigt hat: Notationen mit viel Wasser und einem Minimum an Farbe, die den See als ein visuelles Ereignis an der Grenze zur Abstraktion erscheinen lassen. Renatus Zürcher hat sich mit den digitalen Bildern beschäftigt, die Touristen auf ihren Kreuzfahrten über den See produzieren. Margaretha Dubach erschreckt uns mit einer gruseligen Wasserfrau, und Peter Regli hat mit Hilfe von Aushubmaterial des Gotthardbasistunnels eine Insel bauen lassen. Wer ausserdem erfahren möchte, welche Ungeheuer in den Tiefen des Vierwaldstättersees vermutet werden, findet die gewünschte Information in der 1661 verfassten «Beschreibung» von Johann Leopold Cysat - und wird wohl sogleich spüren, wie ihn ein Barthaar des grossen Welses an der Wade streift.


erschienen in NZZ, Donnerstag, 13.07.2006 / 41