Samuel Herzog
Netzkunst - eine Annäherung
Nicht jeder Fisch, der ins Netz geht, ist auch eine Delikatesse
«Die moderne Kunst schuf als Reaktion auf die maschinengestützte
industrielle Revolution das ästhetische Objekt als geschlossenes System.
Die Nachmoderne schuf als Reaktion auf die postindustrielle Revolution der
Informationsgesellschaft eine Kunst der offenen Zeichen- und Handlungsfelder.
Netzkunst ist im Augenblick die treibende Kraft, welche das geschlossene
System des ästhetischen Objekts der Moderne am radikalsten in das offene
System der Handlungsfelder der Nachmoderne transformiert», deklamierte
Peter Weibel feierlich im Prospekt zu seiner Ausstellung «net.condition»
im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM).
Doch was ist eigentlich «Netzkunst»? Kann man alle Kunst, der
man beim Surfen durch das World Wide Web begegnet, auch als «Netzkunst»
bezeichnen? Seit das Netz zu Anfang der 90er Jahre für private Nutzer
geöffnet wurde, haben Künstlerinnen und Künstler seine spezifischen
Möglichkeiten auf ganz unterschiedliche Weisen genutzt. Den mit Abstand
grössten Teil aller Seiten im Netz, die mit Kunst zu tun haben, machen
aber jene aus, die der Präsentation, dem Verkauf oder der ideellen
Vermittlung von Werken dienen, die in anderen, oft auch nicht digitalen
Medien geschaffen wurden. Nicht nur viele Künstler und fast jede Künstlerorganisation,
sondern auch die meisten Galerien, die Fachzeitschriften und annähernd
alle Museen sind mit eigenen Seiten auf dem Netz präsent. Dieser riesigen
Masse von auf dem Netz präsentierter Kunst steht eine verhältnismässig
kleine Menge von Projekten gegenüber, die ausschliesslich für
das World Wide Web entworfen sind, die von den spezifischen Charakteristika
des WWW ausgehen und nur oder zumindest hauptsächlich auf dem Netz
existieren. Eine Unterscheidung zwischen Kunst auf dem Netz und «Netzkunst»,
«net.art» oder «Webart» scheint also sinnvoll, auch
wenn sie sich nicht bis ins Detail aufrecht erhalten lässt, da einige
Netzkunstprojekte auch über Schlingen verfügen, die in die reale
Welt, die aus dem Medium hinaus wachsen.
Doch was macht Netzkunst eigentlich aus, was sind ihre Eigenschaften und
inwiefern unterscheidet sie sich von anderer Kunst. Erstens lässt sich
quasi als Platitüde festhalten, dass Netzkunst genuin ortlos, nirgends
oder - im Gegenteil - überall ist, jederzeit verfügbar
und unverfügbar zugleich. Sie ist virtuell und das heisst, um mit Jens
Geelhaar zu reden: «da und doch nicht da, ein Trick; mit Worten nicht
zu fassen, sonst wäre es real». Dem könnte man, um die Sache
ein wenig zu komplizieren und einen alten Kunsthistorikerstreit mit ins
Spiel zu bringen, hinzufügen, dass ein Netzkunstwerk gleichzeitig ein
Original ist und auch nicht. Es ist insofern ein Original, als es keine
Kopie ist. Und insofern kein Original, als es nicht ist. Auch könnte
man anfügen, dass jedes Netzprojekt zwar einen Urheber hat, dass aber
das Subjekt Autor nicht mehr, wie etwa in der Malerei, grundlegende Bedingung
und Anfang jeder Arbeit ist. Denn viele Projekte werden im Kollektiv erarbeitet
und Autoren werden oft eher strategisch eingesetzt. Natürlich, über
die Frage des Originals und der Autorenschaft lässt sich streiten,
ewig wahrscheinlich. Jedenfalls bedeutet diese Existenz im weltweiten Datenmeer
auch, dass diese Kunst im musealen Kontext schlecht auszustellen und noch
schwieriger zu vermarkten ist.
Zweitens ist Netzkunst prinzipiell veränderbar und unabgeschlossen.
An dieser Stelle halten Netztheorien generell fest, dass sich Netzkunst
durch ihre proklamierte Unabgeschlossenheit in Widerspruch setze zu dem
von der klassischen Moderne etablierten Begriff des autonomen Kunstwerks,
des Kunstwerks als einer von seinem Autor vorgenommenen, absoluten Setzung.
Dem könnte man entgegenhalten, dass auch Objektkunst diese Unabgeschlossenheit
proklamieren kann und man könnte zum Beispiel die zweite Kölner
Dada-Ausstellung von 1920 anführen: Hier brachte Max Ernst neben einem
seiner Kunstwerke eine Axt an und forderte die Besucher auf, dieses Gerät
zu benutzen, sollte das Werk ihnen missfallen. Noch offener und temporärer
war die partizipative Kunst, die in den späten 50er und den 60er Jahren
zu blühen begann: die Happenings von Allan Kapprow oder später
die partizipativen Events von Yoko Ono und die Closed-Circuit-Installationen
von Valie Export. Nicht zu reden von der Cyborg Art oder von den interaktiven
Installationen der frühen siebziger Jahre, etwa denen eines Myron Krueger.
Auch im Bereich der Konzeptkunst oder der Sozialkunst gibt es genügend
Beispiele, die zeigen, dass es keine singuläre Errungenschaft der Netzkunst
ist, vom System her der absoluten Setzung der Moderne zu widersprechen.
Drittens könnte man sagen, eine genuine Eigenschaft von Netzkunst sei
der Hyperlink, die Möglichkeit, sich von einem Text oder Bild in einen
ganz anderen Bereich zu «linken» und von dort wieder und wieder
weiter zu kommen. Eine Art Ode an den Hyperlink hat vor einiger Zeit Heath
Bunting eingerichtet, der Senior Hacker der britischen Subkultur und Kopf
der Künstlergruppe Backspace. Auf dieser Seite, die unter www.irational.org/heath/_readme.html
zu finden ist, hat Heath Bunting fast jedes Wort eines im «Telegraph»
erschienen Textes über seine Arbeit mit einem Hyperlink versehen. Wenngleich
die meisten dieser Links nur zur Information führen, dass die angelinkte
Seite noch frei sei, ist der Link als genuine Eigenschaft von Netzkunst
hier in einer Weise eingesetzt, die sich wohl kaum mehr übertreffen
lässt.
Viertens bietet das Netz der Kunst die Möglichkeit, das Dreieck von
Künstler-Kunstwerk-Betrachter zu durchbrechen: Dem Betrachter kann
die Möglichkeit gegeben werden, nicht nur zu reagieren, sondern an
dem Kunstwerk auf ganz verschiedene Weise aktiv teilzuhaben oder mitzuwirken.
Auch diese Interaktivität ist allerdings keine Erfindung der Netzkunst,
denn schon die Dadaisten experimentierten mit verschiedenen Formen von Zuschauerbeteiligung.
Während in ihren Aktionen und auch in den Happenings der 50er Jahre
noch meist der Autor als Spielleiter sozusagen im Vordergrund stand, wurde
diese Aufgabe des Verteilens der Regeln aber spätestens im Umfeld der
Cyborg Art in den 70er Jahren an den Computer delegiert - Jahre bevor
von Internet die Rede war, experimentierten Künstler wie Myron Krueger,
Jeffrey Shaw oder Lynn Hershman mit computergesteuerten Formen von Interaktivität.
Solche Versuche, die Eigenschaften von Netzkunst zu beschreiben, lassen
deutlich werden, dass Netzkunst nur sehr bedingt eine generelle Umwälzung
der Möglichkeiten von Kunst darstellt. Dass sie also das ungeheuer
Neue, als das sie immer noch da und dort angepriesen wird, nur sehr bedingt
ist.
Damit sei nicht gesagt, dass der Netzkunst nicht ein grosses Potential innewohnt
- aber die qualitativen Unterschiede sind enorm. Und bei alledem scheint
der Begriff Netzkunst als allgemeiner Bezugsrahmen schlicht zu weit. Es
liegt deshalb nahe, nach Möglichkeiten einer etwas feineren Unterscheidung
zu suchen. Und vielleicht am besten lässt sich eine solche Differenzierung
über den Umgang finden, den die einzelnen Projekte mit der Interaktivität
pflegen: Fünf Kategorien seien hier kurz vorgeschlagen.
Erstens gibt es eine ganze Reihe von Arbeiten, die sich explizit der Interaktion
verweigern und den Netznutzer mit Vorbedacht enttäuschen. Neben der
bereits erwähnten Link-Seite von Heath Bunting wäre hier zum Beispiel
der «Web Stalker» zu nennen. Ein Browser, der die Struktur des
Internet nachahmt. Gibt der Benutzer eine Webadresse ein, wird die Seite
als HTML-Code abgebildet, das heisst in der Sprache, die zum Erstellen von
Webseiten verwendet wird. Und die Hyperlinks werden als Grafik dargestellt.
Ein anderes Beispiel findet man unter jodi.org, denn wer diese Seite anwählt,
dessen Bildschirm wird in derartige Raserei versetzt, dass man das Ende
des eigenen Computers fürchten muss. Solche Sites werfen den Benutzer
sozusagen auf seine eigene Intention oder auf die Bedingungen und Instrumente
des Netzes zurück. Man kann von Interaktivität im Dienste einer
Netz- oder Technologiekritik sprechen.
Die mit Abstand umfangreichste Gruppe von interaktiven Projekten machen
indes jene aus, die Schaltflächen oder Links anbieten, auf die man
klicken kann, um dann ein neues, manchmal auch bewegtes Bildchen oder ein
paar Töne zu bekommen. Die meisten dieser Anwendungen bringen die Interaktivität
sozusagen auf ihr tiefstes Niveau, auf das der reinen Auswahl - das
heisst zwar noch nichts über die Qualität der Sites, aber in dieser
Kategorie gibt es am öftesten Anlass zu gähnen. Da es im Grunde
meist darum geht, auf grössere Mengen von Bildern, Tönen oder
Texten einen übersichtlichen Zugriff zu erstellen, kann von Interaktivität
im Dienste der Ordnung sprechen.
Im Unterschied zu dieser Kategorie kann man in einer dritten Gruppe von
Projekten zwar an der Substanz des Gezeigten Veränderungen vornehmen,
diese werden jedoch beim Verlassen der Site wieder rückgängig
gemacht. Viele dieser Projekte funktionieren nach dem Prinzip von Videospielen
und da sämtliche Eingriffe folgenlos bleiben kann man, wo keine didaktischen
respektive demonstrativen Absichten vorliegen, wohl von Interaktivität
im Dienst der Unterhaltung sprechen.
Eine vierte Gruppe von Projekten gibt dem Benutzer die Möglichkeit,
auf der Seite Veränderungen vorzunehmen, die auch nach dem Verlassen
der Seite bestehen und für weitere Benutzer auf die eine oder andere
Art sichtbar bleiben. Viele Sites in dieser Kategorie fordern den Benutzer
auf, an einem kollektiv entstehenden Kunstwerk teilzunehmen - ganz
in der Tradition der Kollektive aus den 70er Jahren. Meist geht es dabei
um Bilder, doch es gibt auch Versuche, eine Art kollektiven Theoriekörpers
zu entwickeln. Man kann von Interaktivität im Dienste kollektiver Versuche
sprechen.
Gemeinsam ist allen Projekten der vierten Kategorie, dass sie ohne Supervisor
funktionieren, der das ganze strukturiert. Genau darin unterscheide sich
die Projekte der fünften Kategorie, die hier angeführt werden
soll, denn in diesen Projekten bleiben die Künstler aktiv und spielen
weiterhin eine wichtige Rolle im Projekt. Fast alle Seiten dieser Kategorie
haben etwas weiteres gemeinsam: nämlich, dass sich ein Teil des Projektes
ausserhalb des Netzes ereignet, in jener Welt, die man einst Realität
nannte. Ein gutes Beispiel ist hier das Projekt «Netzbikini» von
Eva Grubinger: Die Künstlerin schlägt den Besuchern ihrer Seite
vor, sich nach einem zu kopierenden Schnittmuster ein Bikini aus einem Netzstoff
zu nähen. Sendet man dann ein Foto von sich selbst in diesem Bikini
an die Künstlerin, erhält man von ihr ein Label zugeschickt, das
man auf das Bikini applizieren und es damit zu einem Werk der Künstlerin
machen kann. Man kann von Interaktion im Dienst von Kommunikationsexperimenten
sprechen.
Wie alle Kategorisierungen leidet natürlich auch diese unter Abgrenzungsschwierigkeiten,
doch macht sie nicht nur die verschiedenen Möglichkeiten des Umgangs
mit Interaktivität deutlich, sondern lässt auch die Bandbreite
dessen erahnen, was heute als Netzkunst von Künstlerinnen und Künstlern
produziert wird.
Man mag Netzkunst mit Peter Weibel als «die treibende Kraft» ansehen,
«welche das geschlossene System des ästhetischen Objekts der Moderne
am radikalsten in das offene System der Handlungsfelder der Nachmoderne
transformiert». Gleichzeitig sollte man aber den Umstand nicht aus
den Augen verlieren, dass gerade mit der Netzkunst eine avantgardistische
Aura den Weg zurück in die Kunst gefunden hat, die den Blick darauf
zu verstellen droht, wie mager viele der Projekte sind.
Erschienen in der Basler Zeitung am Donnerstag, 10. Februar 2000