Justin Hoffmann

Das Musikvideo als ökonomische Strategie


In kaum einem Medium sind Ökonomie und Ästhetik so eng miteinander verbunden wie im Musikvideoclip. Am Beginn seiner Entwicklung standen wirtschaftliche Gründe. Schon wenige Jahre später sollte sich jedoch mit aller Deutlichkeit zeigen, dass der Videoclip weit mehr ist als ein profitsteigerndes Produkt. Er beeinflusst heute die Sprache des Films, des Fernsehens und der bildenden Kunst, ganz abgesehen von den Auswirkungen, die es in den Bereichen Lifestyle, Mode und Design zeigt.


Musik sehen

Für die Pop- oder Rockmusik spielte die Visualität stets eine zentrale Rolle. Die Musik war immer auch ein Seherlebnis, waren immer mit Graphiken, Filmen und Kleidermoden verbunden. Umso mehr erstaunt es, wie wenig die Zusammenhänge von Popmusik und Film bzw. Fernsehen untersucht wurden. Gerade durch das Fernsehen haben Fans gelernt, wie man tanzt oder wie man sich anzieht und haben dabei neue Objekte und Erzählungen gefunden, in denen sie ihre Wünsche und Bedürfnisse zum Ausdruck bringen können. Für viele, die nicht in den Metropolen leben, bildete das Fernsehen die einzige Möglichkeit, Popmusik live zu erleben. Trotzdem ist es diesem Medium bis zum Jahr 1981, der Einführung von MTV in den USA, kaum gelungen, Sendungen auszustrahlen, die Rockmusikfans annähernd befriedigen konnten. Bis dahin wurden die InterpretInnen zwischen einfallslosen Pappkulissen in öden Studios gestellt oder bei ihren Auftritten in grossen Hallen abgefilmt. (Soul-Video: James Brown: It's a man's world)

Grundsätzlich gilt die visuelle Ebene im Unterschied zur akustischen als die Basis, auf der die hegimoniale Kultur ihren Einfluss entfalten kann. Während Sound und Stimme traditionell Authentizität, Energie, Vitalität und oftmals Black Roots repräsentieren, kann sich die Unterhaltungsindustrie gerade in der visuell-optischen Ebene entfalten. Denn während sich Musik überall unbegrenzt im Raum verbreiten kann, liegt das Seherlebnis stets auf einer Blickachse, die von der Bildquelle als auch vom Rezipienten leicht zu kontrollieren ist. Nach Felix Guattari (Molecular Revolution: Psychiatry and Politics, NY 1984) ist deshalb die Musik die am de-territorialisierendste und am wenigsten signifizierende kulturelle Form. Musik enthält das Potential, Bedeutungsstrukturen aufzubrechen und umzuformen, Emotionen zu wecken und individuelle Bedürfnisse unmittelbar zu befriedigen.

Musik und Bild scheinen miteinander zu konkurrieren, wobei das Bild deutlich an Boden gewinnt. Während in frühen Videoclips noch wert auf die Synchronität der SängerInnen gelegt wurde, ist man inzwischen weitgehend davon abgekommen. Die Bildfolgen sollen für sich selbst sprechen. Alle drei Sekunden mindestens ein Schnitt gilt als Regel, sonst geht die Aufmerksamkeit des Zuschauers verloren. Dabei wurde die visuelle Seite der Clips von der postmodernen Theorie häufig überbewertet. So wurde vielfach missverstanden, dass der ungewohnten Schnittfolgen und narrativen Brüche nicht eine innovative filmische Konzeption, sondern die Struktur der Musikstücke und die Abhängigkeit des Singleformats zugrundeliegt. Mit der zunehmenden Bedeutung des Visuellen veränderte sich das gesamte Erscheinungsbild der Popmusik. Wer bei einem Major Label heute einen Vertrag erhält, muss in der Regel auch optisch etwas zu bieten haben. Die ProtagonistInnen sollen MTV-gerecht schön oder schrill aussehen. Auch die Bühnenshow gleicht sich den Videoclips zunehmend an. Tanzdarbietungen, Licht- und Feuerzauber spielen eine immer grössere Rolle. Das ursprüngliche Interesse der Rockmusik an Authentizität ist dem Wunsch nach Künstlichkeit und Konstruktion gewichen. Bild und Ton haben sich dieser Tendenz entsprechend entwickelt. Authentizität wird selbst als Konstrukt vorgeführt, Illusion als Illusion präsentiert.2 (Aerosmith: Amazing)


Das Musikvideo ist mehr als eine Produktwerbung

Das Fernsehen und die Rock- bzw. Popmusik gehören zu den zentralen kulturellen Entwicklungen der Nachkriegszeit. Gerade ihre Widersprüche und Dynamiken spannten ein weites kreatives Feld auf, in dem immer wieder neue kulturelle Phänomene entstanden, die nicht nur einen Grossteil der sogenannten Freizeit in Anspruch nahmen, sondern auch zu Geschmacks- und Wertebildungen führten. Das wichtigste unter ihnen ist das Musikvideo, der Videoclip. Unterschiedliche Begriffe bringen TheoretikerInnen und KritikerInnen mit dieser kulturellen Form heute in Verbindung: die Durchkapitalisierung der Musik, die Vereinnahmung von Authentizität und Rebellion, textuale Schizophrenie, das Verschwinden der Realität und die Genese neuer Formen des Widerstands. Bei diesen teils kulturpessimistischen Interpretationen bleibt der soziale Gebrauch der Videoclips, die historischen Effekte und die persönlichen Erfahrungen weitgehend unberücksichtigt. Von der ökonomischen Seite aus betrachtet stellt das Musikvideo lediglich eine besondere Form von Ware dar, die Mehrwert erzeugen soll. Mit ihm ist eine spezifische Form der Produktion und Distribution verbunden. Ästhetisch gesehen bildet das Musikvideo ein Set kultureller Praktiken, eine Synthese unterschiedlicher Ikonographien und Rhetoriken und damit ein Konglomerat verschiedenster Ausdrucksmittel. Es wird von differenten sozialen Gruppen aus unterschiedlichen Gründen und in verschiedener Weise konsumiert. Selbst die Einteilung in verschiedene Musikkanäle entspricht der Orientierung an ein spezifisches Publikum. Das Programm von MTV und VIVA richtet sich so vorwiegend an ein jüngeres, VH-1 und VIVA 2 an älteres Publikum.

Das Musikvideo ist Repräsentant einer neuen Medienökonomie. Mit ihm hat sich das Verhältnis von Ton und Bild wesentlich verändert. Dabei scheinen mir weniger die Auflösung imaginärer Freiheiten von Bedeutung, die mit dem Hören von Tonträgern unmittelbar verbunden sind, als die Wirkung, die eine Verschiebung des Zusammenhangs von Ton und Bild auf das Fanverhalten und die Ideologie der Authentizität hat. Lawrence Grossberg geht dabei so weit, vom "'death' of the rock culture", so wie sie 35 Jahre lang existierte, zu sprechen.3 Schon 1986 hatte der englische Musikkritiker Biba Kopf in seinem Aufsatz "If it moves, they will watch it" mit grossem Pathos behauptet:" Jeder Clip markiert eine Station jenes Kreuzwegs, an dessen Ende die Kreuzigung der gesamten Popmusik steht."4

Doch andererseits: ist der Videoclip überhaupt eine neue kulturelle Form? Von juristischer Seite nicht unbedingt. In einem Rechtsstreit 1986 zwischen der Screen Actors' Guild und den grossen Filmstudios Hollywoods kam das Gericht zu dem Schluss, dass ein Musikvideo grundsätzlich keine neue Form von Unterhaltung sei. Wenn es das wäre, müssten den Schauspielern zusätzliche Gelder gezahlt werden. Das Urteil wurde damit begründet, dass das Musikvideo lediglich eine andere Form der Promotion und der Vermarktung sei.5 Doch ist es wirklich nur mehr ein Beiwerk zur Musik auf den Tonträgern CD, MC oder Schallplatte? Eine solche Wertung würde die Bedeutung des Clips im Kontext der Umstrukturierung der Unterhaltungsindustrie, sowie für andere Medien wie Film oder Kunst verkennen.

Für VideokünstlerInnen, die an einer grösseren Verbreitung jenseits des Kunstpublikums interessiert sind, besteht zunehmend die Gefahr, dass sie sich zu sehr den Prinzipien und dem Stil der Musikkanäle anpassen. (Pipilotti Rist: Mutaflor, 1996) Wenn sie mit dem Massenmedium Fernsehen operieren, müssen sie sich bewusst sein, dass ihre Arbeiten nur ein Teil des "television flow" ist, und dass sie sich entsprechend über die Rezeption des Publikums Gedanken machen müssen. Das ist besonders wichtig, für jene die mit Videoeffekten arbeiten. Denn es kann leicht passieren, dass deren Arbeiten mit den Clips von MTV zum Verwechseln ähnlich sind. Dabei ist es inzwischen nicht mehr so, dass das kommerzielle Fernsehen in erster Linie bei der Videokunst Anleihen nimmt, sondern umgekehrt die Videokunst beim Fernsehen, besonders bei der Erscheinungsform der Clips. Einige VideokünstlerInnen scheinen nur darauf zu warten, vom Mainstream absorbiert zu werden, ganz im Unterschied zu den videoaktivistischen KünstlerInnen der 70er Jahre, die ein anderes Fernsehen initiieren wollten. Anfang der 80er Jahre versuchten aus ganz unterschiedlichen Interessen heraus MTV und das Netzwerk von Deep Dish (PTTV) eine neue Form von Fernsehen zu entwickeln. Sie wollten sich vom herkömmlichen Fernsehen deutlich unterscheiden und lieferten interessante Alternativen. Beide ästhetischen Stile, der lowtechstyle von Deep Dish und die Specialeffect-Orgie bei MTV, stellen eine Art Ablehnung der damaligen Konvention dar. MTV hat übrigens immer wieder künstlerische Beiträge gesendet, wie von z.B. Robert Longo, wobei den KünstlerInnen ähnliche Starqualitäten verliehen wurden wie den MusikerInnen und Bands. Die von MTV gezeigte Kunst funktionierte wie andere Programmpunkte und fiel dadurch nicht sonderlich auf.

Im Gegensatz zu vielfach gehörten Äusserungen ist die spezifische Form des Musikvideos kaum zu definieren. Stellen wir als Charakteristikum eine fragmentarische, "postmoderne" Ästhetik fest, finden wir auf der anderen Seite klassische Erzählstrukturen und Ausdrucksweisen der Romantik. Wenn wir als das Typische das fernsehgerechte Format erklären, so müssen wir gleichzeitig auf die differenten TV-Praktiken unterschiedlicher Sender wie MTV, Viva, Bravo-TV oder den Country-Sender Nashville in den USA hinweisen. Auch darauf, dass Videoclips oder videoclipähnliche Sequenzen bisweilen innerhalb von Fernsehserien wie Miami Vice oder Baywatch erscheinen. Diese unterschiedlichen Ausprägungen machen es schwer, ein homogenes Bild des Musikvideos und seines Kontextes, der Position und Relevanz innerhalb einer Programmstruktur, zu entwerfen.

Die unterschiedlichen Programminhalte sind jedoch nicht nur ein Resultat der verschiedenen Interessen der Seher und Sendeanstalten, sie ist auch eine Folge ökonomischen Drucks. So schliesst MTV bis heute mit den Major Labels Exklusivverträge ab, die ihr weltweit eine Vorrangsstellung sichern sollen. Ein bestimmter Prozentsatz der produzierten Videoclips eines Unternehmens kann somit für eine bestimmte Zeit nur auf MTV gesehen werden. Die innovativsten und lukrativsten Clips sind damit vom freien Markt genommen. Verschiedene Antitrust-Untersuchen und Klagen anderer Sender, die diesen Versuch der Monopolisierung von MTV stoppen wollten, blieben erfolglos. Auch Grössen der Popmusik wie The Rolling Stones oder Billy Joel bekamen die Auswirkungen des harten Konkurrenzkampfs zu spüren. So wurden deren Clips, nachdem sie in Programmen von Konkurrenzsendern zu sehen waren, aus MTV kurzerhand verbannt.


Nebenprodukte der Popmusik

Der Clip als Kaufvideo ist Teil einer grösseren Produktpalette, die für die Musikindustrie von zentraler Bedeutung ist. In den grösseren Verkaufsstätten werden Videos mit Kompilationen von mehreren Clips angeboten, meist durch Aufnahmen von den Dreharbeiten und durch Interviews mit den ProtagonistInnen ergänzt. Diese Home Videos, die z.B. auch von MTV herausgegeben werden, fallen in den Bereich der Nebenprodukte bzw. Fanartikel. Fanartikel können weitgehend in von Fans selbstproduzierte und in von der Unterhaltungsindustrie distribuierte Artikel unterteilt werden. Letztere können als Resultat der produktiven Seite der Machtausübung der herrschenden wirtschaftlichen Kräfte gewertet werden. Diese Form von Warenproduktion hat in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen. Der Verkauf der vor allem an Teenager gerichteten Artikel findet nicht nur in Schallplattenläden sondern auch in den grossen Kaufhäusern oder über Mail Order statt. Die erste Band, bei der die Einnahmen aus dem Verkauf dieser "Nebenprodukte" höher war als die der Tonträger war die Teenagerband New Kids On The Block. (Spice Girls, Say you'll be there, vgl. Russ Meyers Fast Pussycat ... Kill! Kill!)

Die Popmusik wird von den Konzernen als ein Weg begriffen, an junge Käuferschichten zu gelangen. Sie bedienen die Jugendlichen genauso mit herkömmlichen Tonträgern wie mit interaktiven CD-Roms, Computerspielen, Zeitschriften oder eben Videos. Die Musik spielt zudem als "Verkleidung" von Waren aller Art eine Schlüsselrolle. In den Clips der Werbung tauchen nicht zufällig häufig Popmusikfragmente auf. (Beispiel) In den letzten Jahren konnten zahlreiche Titel in Werbespots für unterschiedlichste Produkte (Jeans, Autos etc.) zum Hit werden - meist Stücke, die schon früher einmal die Hitparaden stürmten. Madonna war schliesslich die erste, die ihr neuestes Stück als Weltpremiere innerhalb eines Werbefilms für Pepsi präsentierte ("Like a prayer", 1989). Die Promotion für Musik und Getränk wurden perfekt aufeinander abgestimmt.6

Einen neuen Typus in der Verbindung von Musik und Werbung stellen Clips wie der "Hittip" des Senders SAT 1, sowie "chart tip" und "No 1 Bullet of the Week" (Beispiel: the Cause, C000) bei RTL 2 dar. Innerhalb des Werbeblocks wird jede Woche neu der Ausschnitt eines Musikclips vorgestellt und als künftiger Chartbreaker angepriesen. Einen wirtschaftlich besonders relevanten Faktor bildet gegenwärtig die Rave Generation. Verschiedene Firmen haben mit Erfolg (neue) Produkte lanciert, die gleichsam als Attribute der Techno Culture erscheinen sollen. In diese Angebotspalette fallen nicht nur zahlreiche neue Erfrischungsgetränke sondern auch Snowboards und Reisen, die unter dem Motto "Rave & Cruise" angeboten werden. Sie zu kaufen oder zu gebrauchen, ist kein gewöhnlicher Konsum, sondern bedeutet die Partizipation an einer Bewegung und einem Lifestyle.


Stars und globale Distribution als Prämissen der Clipproduktion

Die Voraussetzung für die Herstellung von Videoclips sind Stars und die Möglichkeit einer weltweiten Distribution. Die globale Verbreitung und die Popularität der ProtagonistInnen sind die finanzielle Voraussetzung für die häufig sehr kostspieligen Filmaufnahmen. Andererseits sind Stars ohne Videoclips kaum denkbar. Die Fans wollen ihre Stars sehen und dabei ihr Outfit, ihre Mimik und ihre Gesten kennenlernen.
Als das wichtigste Produkt, welches die Musikindustrie herstellt und im besonderen Masse der Bedürfnisbefriedigung und Profitmaximierung dient, gilt nicht der Song oder der Tonträger sondern der Star. Mit ihm haben MusikerInnen und SängerInnen gleichsam Warenform angenommen. Der Star ist Allgemeingut: wir besitzen ihn, er besitzt uns. Die Entstehung des Popstars im 20. Jh. ist eng mit der Organisierung der Freizeit in der spätkapitalistischen Gesellschaft verbunden. Die Freizeit soll danach in erster Linie dem Konsum dienen. Die Menschen müssen aber erst zum Konsumenten erzogen werden. Stars erfüllen hierbei eine wichtige Aufgabe. Ihr Glamour verkörpert das Begehren und die Konsumwünsche der Individuen. Untersuchungen in den USA ergaben, daß 30% aller Musikclips einen Hinweis auf einen Markenartikel enthalten und fast 70% den Konsum bestimmter Produkte zeigen. Die Stars tragen in den Videos die Freiheiten zur Schau, die ihre Fans gewöhnlich nicht besitzen. Als Leitfigur spielen sie zudem eine wichtige Rolle für die Disziplinierung der Bevölkerung. Als Agenten der Konsumindustrie tragen sie dazu bei, Normen zu setzen und die Grenzen und Möglichkeiten der Individuen zu definieren. Im Vergleich zu den Modells der Modebranche scheint die Bedeutung der Musikstars in den letzten Jahren zurückgegangen zu sein. Trotzdem spielen die Stars der Popmusik ihrer Funktion als "role modells" für die Identitätsbildung besonders der Heranwachsenden weiterhin eine entscheidende Rolle. Sie tragen wesentlich zur Herausbildung sexueller Differenzen bei.

Die Internationalisierung des Kapitals und die wachsenden wirtschaftlichen Verflechtungen lassen sich auch im Bereich der Popmusik festellen. Die grosses Plattenfirmen sind längst international verbunden. So sind viele frühere Labels, mit denen nationale kulturelle Äusserungen assoziiert werden, inzwischen Bestandteil eines internationalen Konzerns (z.B. gehört Columbia heute Sony mit Hauptsitz in Japan und RCA Bertelsmann mit Hauptsitz in Deutschland). Dabei wird der frühere Firmenname vielfach belassen, um die Veränderungen der Besitzverhältnisse zu verschleiern. Die Internationalisierung des Warenkapitals reicht von Instrumenten über Tonträger bis zu Hifi-Anlagen, während die Internationalisierung des produktiven Kapitals durch eine Zunahme der Produktion der Elektronik- und Unterhaltungsindustrie ausserhalb der Triade-Länder gekennzeichnet ist. Als eine Auswirkung der Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien ist weitgehend die Internationalisierung des Geldkapitals zu begreifen.

Der Erfolg des ersten 24-Stunden-TV-Kanals MTV beruht ebenfalls auf den Fortschritt der technologischen Entwicklung. Seine Entstehung ist eng mit dem Ausbau des Satelliten- und Kabelfernsehens verbunden. Ähnlich wie die Einführung der CD konnte MTV nur durch das Zusammenwirken von Software- und Hardwareunternehmen ins Leben gerufen werden. Mit American Express war gleich von Anfang an ein sehr finanzkrätiger Partner vorhanden. Inzwischen ist MTV das Weltfernsehen Nummer 1; knapp 1 Milliarde Menschen und mehr als ein Viertel aller Familien auf der Erde empfangen diesen Musikkanal. MTV spielt gerade für die US-Unternehmen eine wichtige Vorreiterrolle, wie David Rothkopf, das ehemaligen Mitglied der Clinton-Regierung bestätigt: "Die Vereinigten Staaten haben ein wirtschaftliches und politisches Interesse, dass in einer Welt, in der sich eine gemeinsame Sprache herausbildet, diese das Englische ist; dass in einer Welt, die sich auf gemeinsame Telekommunikations-, Sicherheits- und Qualitätsstandards einigt, sich die amerikanischen Normen durchsetzen; dass in einer Welt, die immer mehr mittels Fernsehen, Rundfunk und Musikmoden vernetzt wird, die entsprechenden Programme amerikanisch sind."7

Der schnelle Erfolg der Musiksender VIVA und VIVA 2 in den deutschsprachigen Ländern, die heute beide eine grössere Reichweite besitzen als MTV, und die Zunahme deutscher Produktionen in den Charts können als Resultat der Simultaneität von Regionalismus und Globalisierung begriffen werden, wie sie Stuart Hall in seinem Aufsatz "The local and the global" (in: Anthony D. King (Hg.), Culture Globalization and the World System, London 1991) beschrieben hat. Globale und lokale Tendenzen müssen demnach keine Gegensätze bilden. Sie sind zwei Vektoren der gleichen ökonomischen Richtung. Untersucht man regionalistische Erscheinungen, kommt man in der Regel zu dem Schluss, dass sie ökonomische Prozesse auf bestimmten Ebenen unterbrechen auf anderen aber verstärken. So entsteht eine multiple Konstruktion, d.h. Einheitlichkeit durch Differenz.

Die Globalisierung führte auch auf künstlerischer Ebene zu einer weitgehenden Nivellierung. Die kulturelle Interaktion hat im Bereich der Popmusik seit 1970 eine neue Qualität angenommen. Auf frühere Formen des Austausches, der unter Vorherrschaft der Europäer durch einen Transfer von Geld und kulturellen Quellen gekennzeichnet ist, folgte eine Transkulturalisierung, die auf die inzwischen globale Verbreitung der internationalen Konzerne und neue Kommunikationswege bauen kann. Für Roger Wallis/Krister Main ist beispielsweise die Diskomusik eine Musikform von transkultureller Bedeutung. Sie konnte sich in fast allen Staaten der Erde durchsetzen. Michael Jackson, als bekanntestes Beispiel, gilt in jeder Hinsicht - Ethnie, Geschlecht, Alter, Musikstil - als der universelle Musikrepräsentant.(Beispiel: Michael Jackson, Black or White, 1991, Morphing) Zur Vereinheitlichung der Popmusikproduktion trug wesentlich der weltweite Verkauf von meist elektronischen Musikinstrumenten, Fanartikeln und Abspielgeräten bzw. Musikanlagen bei. Das gleiche Yamaha-Keyboard kann heute fast in allen Ländern der Erde zu einem relativ geringen Preis erworben werden. Doch auch auf künstlerischer Ebene gab es Gegenreaktionen: Es entstand schon zu Beginn dieser Globalisierungsbestrebungen als Gegenbewegung die Konstitutierung nationaler Popkulturen. In den 70er Jahren trat dieses Phänomen in Schweden genauso wie in Jamaika, Sri Lanka oder Tansania in Erscheinung. Häufig wurde dabei in der Sprache der jeweiligen Länder gesungen, und folkloristische Elemente in die Musikstücke integriert. Doch die Tendenz zur weitgehenden Homogenisierung der Popmusik konnte auch diese konträre Entwicklung nicht aufhalten. Sie unterstützte im Gegenteil die noch weitere Verbreitung der Popmusik in den kommenden Jahrzehnten. Doch ist festzustellen, dass der Prozess der Transkulturalisierung nicht ohne Widerstand und ohne historische und geographische Verschiebungen verläuft.

Zu den weniger kommerziell orientierten, politisch ambitionierteren Videoclips gehören oftmals die jener kleineren Labels, die statt mit hohem Kostenaufwand mit ungewöhnlichen Ideen und experimentellen Formen arbeiten. Dabei deckt sich deren Produktion häufig mit jenen Clips, die als besonders künstlerisch gewertet werden. Entsprechend werden sie im Bereich der Kunst immer stärker rezipiert, was bis zur sehr pauschaulisierenden Einschätzung von Musikclips als die populäre Kunstform der Gegenwart von Udo Kittelmann reicht. (Prince: Sign 'o' the times, 1987, TAFKAP=The Artist Formerly Known as Prince; Björk: Bachelorette, Michel Laundry) Aber auch die Kurzfilmtage von Oberhausen haben 1999 begonnen, einen deutschen Musikclippreis, "MuVi", einzuführen. Die Filme in einem Kontext frei von Verwertungsinteressen zu zeigen, macht laut Einführungstext von Lars Henrik Gass die künstlerische Qualität dieser Arbeiten erst wirklich wahrnehmbar.8 So lassen sich im Zusammenhang mit den Differenzierungsprozessen im Bereich des Mediums Musikvideoclips beide Bewegungsrichtungen, die Kulturalisierung von Ökonomie sowie die Ökonomisierung der Kultur, feststellen.

Die Goldenen Zitronen
I-f
Fatboy Slim (b030)
Cassius (c106)
Christopher Just
DJ Hell (Abstracts)

Tendenzen:
Selbstreflexion (Fatboy Slim, I-f, Goldene Zitronen)
Nähe zum Computer(-spiel) (Backstreet+Janet Jackson, Busta Ryhmes+Janet, Aerosmith, DJ Hell)
Animationsorgien/Zeichentrick (Cassius, Freundeskreis)




Justin Hoffmann