Oliver Kielmayer

Get Real with WeAreTheArtists!
Kommunikationsformate gegen den Realitätsverlust im professionellen Kunstbetrieb


Die zeitgenössische Kunst befindet sich von Haus aus im Dauerzustand latenter Unsicherheit. Zum einen liegt dies in der Subjektivität ästhetischer Urteile begründet, zum anderen im Anspruch auf Neuheit, den man an das Kunstwerk stellt; zum Neuen gehört ja notwendigerweise mit dazu, das es etwas beinhaltet, zu dem es weder Referenz noch Massstab gibt. Vielleicht gerade deshalb reagieren die Protagonisten des Kunstsystems häufig mit einem gesteigerten Bedürfnis nach Objektivität und Professionalität; um am Ende allerdings zugeben zu müssen, dass sich für nahezu alle Formfindungen interpretatorische oder konzeptuelle Legitimationen finden lassen.

Diese Problematik gilt dabei keineswegs nur für das Kunstsystem allein. Die objektive Nachvollziehbarkeit von Motivationen und Urteilen spielt in sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen eine wichtige Rolle, doch ist sie gleichzeitig mehr und mehr zu einer Farce geworden. Paradoxerweise hat dies mit den Folgen der voran getriebenen Professionalisierung zu tun und liegt in der banalen Tatsache begründet, dass heutzutage immer weniger Menschen in immer weniger Bereichen überhaupt noch in der Lage sind, eine Information kritisch einschätzen zu können. Wichtige Entscheidungen werden von Experten und Fachleuten getroffen, die für sich in Anspruch nehmen können, von einer Sache etwas zu verstehen; allen anderen wird infolge ungenügenden Wissens häufig nicht einmal zugestanden, eine Kritik daran zu üben.

Die geglückte Entscheidungsfindung durch Fachexperten beruht letztendlich auf der Annahme, dass die wenigen Entscheidungsträger erstens die am besten qualifizierten Leute sind und zweitens professionell entscheiden. Zur Qualifikation ist zu sagen, dass sich die Gesellschaft nicht nur inhaltlich professionalisiert hat, sondern auch strukturell; in diesem Zusammenhang bedeutet dies, dass nicht unbedingt die in einem Spezialgebiet versiertesten Leute zu Entscheidungsträgern werden, sondern jene, welche die Dynamik des Weges dorthin am besten verstehen und anwenden können. So ist mittlerweile ein offenes Geheimnis, dass nicht immer fachliche, sondern auch soziale und strategische Kompetenzen am Ende die effektiven Entscheidungsträger bestimmen.

Zur professionellen Entscheidung als solches ist schliesslich anzumerken, dass niemand frei von persönlicher Willkür, Vorlieben und Ressentiments ist: Je weniger Meinungen zu einem Diskurs jedoch zugelassen werden, desto abhängiger werden die Resultate von solchen Einflüssen. Das Ergebnis der Professionalisierung ist ironischerweise ein Zustand, in dem professionelle Entscheidungen keineswegs nur durch Fachkompetenz zustande kommen, sondern in mindestens ebenso hohem Masse durch die persönliche Willkür einer privilegierten Minderheit.

Als ein gesellschaftliches Teilsystem führt die Kunst ebenso wie Recht, Politik, Religion und Wissenschaft einen Spezialdiskurs, zu dem nur diejenigen zugelassen sind, die vom System hinsichtlich Bildung und Qualifikation anerkannt werden. Systemintern strukturiert sich die Kunst in verschiedene Bereiche von Produktion, Distribution und Rezeption, an denen Künstler, Kuratoren, Kritiker und andere Kunstvermittler, Dozenten, Sammler und Galeristen instruktiv teilnehmen. Die verschiedenen Berufszweige, oder vielleicht besser Rollen, die sich innerhalb des Kunstsystems ausgebildet haben, sind dabei keineswegs klar voneinander getrennt oder unabhängig; viel eher zeigt sich die Kunst beim näheren Hinsehen als ein weitverzweigtes Geflecht verschiedener Interdependenzen.

Der Journalist oder Kunstkritiker ist infolge des Spardrucks der Medien kaum mehr in der Lage, alleine vom Schreiben zu leben und ist deshalb gleichzeitig als Lehrer, Kurator oder Kunstexperte tätig. Die Berufung zum Kunstexperten beispielsweise ist jedoch vom Vorschlag anderer abhängig, und zwar häufig jener, die aufgrund ihrer beruflichen Stellung eigentlich erste Wahl als Experten wären, jedoch aus genau demselben Grund keine Zeit haben und deshalb jemand anderen vorschlagen. Als Folge daraus überlegt man es sich als Kunstkritiker bisweilen zweimal, über eine Ausstellung eine negative Rezension zu schreiben; womöglich wird der Leiter des entsprechenden Museums nämlich kurze Zeit später jemanden für die Mitarbeit in einer Fachjury vorschlagen.

Als Kurator wiederum ist man für die Realisierung von Projekten häufig auf Gelder von Stiftungen angewiesen, in deren Gremien andere Kuratoren oder auch Künstler sitzen; man mag also vom Oeuvre eines Künstlers nicht unbedingt viel halten, wird sich aber davor hüten, dies in gewissen Fällen öffentlich zu kommunizieren. Sogar die Einladung eines entsprechenden Künstlers zu einer Ausstellung kann in Erwägung gezogen werden, vor allem wenn man ihn als Mitglied der Findungskommission für den nächsten angestrebten Kuratorenposten vermutet.

Es überrascht auch kaum, dass Künstler, die eine Galerieverbindung anstreben, einen höflichen Umgang mit den Galeristen pflegen. Gleiches tun die Kuratoren, die sich Beziehungen zu reichen Sammlern erhoffen: Infolge der heutzutage geradezu chronisch mit einem ungenügenden Budget ausgestatteten Kunsthallen und Kunstvereine bleibt ihnen auch gar keine andere Wahl.

Alle Protagonisten innerhalb des Kunstsystems sind derart Teile eines subtil und weit verzweigten Interdependenzgeflechtes, das von einem vorsichtigen und bedachten Umgang miteinander geprägt wird; einem Spiel gleich, in dem sich jeder möglichst viele Optionen offenzuhalten versucht. Es ist durchaus üblich, während einer Jurysitzung am Nachmittag die breite Akzeptanz und den Erfolg einer künstlerischen Position zu loben, abends unter Freunden jedoch laut die Frage zu stellen, weshalb eben diese Position überhaupt erfolgreich sei; nur im vertrauten Kreis darf man freilich ernsthaft an der Qualität eines anerkannten Werkes zweifeln und womöglich bekennen, dass man persönlich keinerlei Verständnis dafür habe. Gut an der öffentlichen Zurückhaltung ist zweifelsohne, dass dadurch emotionale Überreaktionen verhindert werden und zudem ein gewisses Mass an Anstand garantiert wird. Doch täuscht die Behutsamkeit im Exponieren von Meinungen nicht darüber hinweg, dass es sehr wohl einen realen Meinungsaustausch gibt, wenngleich nur innerhalb kleiner, sich vertrauter Netzwerke.

Es sind solche Mechanismen und die daraus resultierenden Schizophrenien, die den Nährboden für ein Projekt wie WeAreTheArtists bilden. WeAreTheArtists wurde 2004 gegründet, die Ursprungsidee dabei war es, ein stetig sich erweiterndes Netzwerk von Kuratoren, Kunstvermittlern und vor allem Künstlern sichtbar und zugänglich zu machen. Konkret bedeutete dies den Versuch, die innerhalb des Netzwerkes stattfindende Kommunikation zu fördern und sie gleichzeitig nach aussen hin mit einer Gratiszeitung sowie einer Homepage zu kommunizieren. Entgegen der herkömmlichen Kunstberichterstattung, in der Willkür zumeist mit professionellen Motiven bemäntelt und der Öffentlichkeit im Kleid einer professionell getroffenen und objektiv richtigen Entscheidung kommuniziert wird, sollte die Kommunikation unmittelbar und real sein.

Der Wunsch, persönliche Beweggründe und Motivationen sowie die damit verbundene subjektive Willkür der im Kunstsystem agierenden Protagonisten sichtbar zu machen, ist nicht nur legitim, sondern geradezu notwendig. Es geht dabei nicht um die Utopie, die Willkür abschaffen zu wollen; es geht darum, Willkür als solche sichtbar und dadurch wenigstens angreifbar zu machen. Weshalb dies gerade heutzutage so wichtig ist, hat zum einen mit dem Reifegrad der oben beschriebenen Entwicklungen zu tun, zum anderen mit der plötzlich herrschenden globalen Perspektive. In einer lokal agierenden Gemeinschaft verfügten die Beteiligten alleine durch die Unmittelbarkeit der Geschehnisse und der Vertrautheit mit den sie prägenden Personen über eine Art Hintergrundwissen, das ihnen erlaubte, die professionelle Berichterstattung darüber einschätzen zu können. Im globalen Massstab ist diese Vertrautheit dagegen unmöglich geworden und man kann die dargebotenen Informationen kaum mehr durch eigenes, besseres Wissen relativieren oder falsifizieren. Dies stellt an die sinnvolle Berichterstattung über Kunst neue Ansprüche; die professionelle Kunstkritik ist nach wie vor eine wichtige Kommunikationsform über Kunst, doch kann sie kaum mehr die einzige sein.

In der Kommunikation subjektiver Perspektiven von Künstlern, Kuratoren und Kunstvermittlern sowie der Schaffung entsprechender Formate liegt vielleicht die Möglichkeit eines Korrektivs, das sämtlichen durch professionelles Verhalten legitimierten Entscheidungen die subjektive Willkür entgegensetzt. Die Unzulänglichkeit professioneller Diskurse mitsamt ihren entsprechenden Kommunikationsformaten und der damit verbundene Wunsch nach Authentizität hat bereits in vielen anderen Bereichen zu einer Hinwendung zum Gewöhnlichen und Subjektiven geführt. Bezüglich der Generierung von Formaten, die eine entsprechende Kommunikation erlauben, war in den letzten Jahren vor allem das kommerzielle Fernsehen erfolgreich; mit dem Reality-TV entstand hier sogar ein neues, eigenes Genre dafür. Ein Blick in die jüngere Fernsehgeschichte ist dabei nicht nur hinsichtlich der Entwicklung von neuen Kommunikationsformaten spannend, sondern gleichzeitig auch hinsichtlich der Grenzen, die damit verbunden sind.

Zu Beginn der 1980er Jahre machten noch Fernsehserien wie &Mac226;Dallas‘ oder &Mac226;Dynasty‘ Furore, doch bereits gegen Mitte desselben Jahrzehnts verschob sich der Akzent hin zur Realität des Durchschnittsbürgers. Im deutschsprachigen Fernsehen wurde 1985 die &Mac226;Lindenstrasse‘ aus der Taufe gehoben, die ganz anders als &Mac226;Dynasty‘, das an Künstlichkeit kaum mehr zu überbieten gewesen war, das &Mac226;normale‘ Leben in einer deutschen Stadt abbildete. &Mac226;Lindenstrasse‘ – gleichfalls die englischsprachigen Pendants wie &Mac226;Neighbours‘ oder &Mac226;Eastenders‘ – arbeiteten noch mit professionellen Drehbuchautoren und Schauspielern, doch entstanden bald danach sogenannte Reality-TV-Formate, die entweder reale Geschichten mit Schauspielern nachspielten, oder schliesslich ganz auf Darsteller verzichteten und sie durch &Mac226;normale‘ Menschen ersetzten. In &Mac226;The Real Life‘, das der amerikanische Sender MTV ab 1992 austrahlte, wurden scheinbar zufällig ausgewählte Mitmenschen in einer Wohngemeinschaft zusammengeführt und während 18 Stunden täglich gefilmt. Die gesamten &Mac226;Big Brother‘ Staffeln ab dem Jahr 1999 folgen bis heute diesem Beispiel. Interessant ist dabei, dass die Hinwendung zur Realität lediglich ein erster Schritt war und dass mittlerweile die Realität selber wiederum inszeniert wird. Basierte die erste Staffel von Big Brother noch auf der einfachen Zusammenlegung verschiedener Charaktere in einer Wohnung, so wird mittlerweile bereits ein gesamtes Dorf nachgebaut, in welches die Bewohner auf unbestimmte Zeit einziehen. Damit werden die Bedingungen des Zusammenlebens zwar realer – indem sich die Bewohner nun nicht mehr in einer gefängnisartigen Zwangsgemeinschaft befinden, die im realen Leben niemals zustandekommen würde – gleichzeitig aber auch artifizieller, indem nun das gesamte, im realen Leben vorhandene Setting nachgebaut wird.

Gleichzeitig sind auch die Kandidaten, die sich für derartige Sendungen zur Verfügung stellen, mehr und mehr zu Darstellern geworden. Dies bedeutet nichts anderes, als dass Reality-TV, kreiert aus einem Bedürfnis nach mehr Realität, letztendlich gar keine Realität kommuniziert, sondern gerade umgekehrt die Realität durch Formen telegener Darstellung manipuliert. Die angesprochene Selbstdarstellung ist deshalb nicht nur symptomatisch für einen gesellschaftlichen Trend, sondern auch ein Indiz dafür, dass gerade Reality-Formate unter Umständen Darstellung und Inszenierung sogar noch fördern können.

Die verschiedenen Reality-TV-Formate spiegeln den latent in der Gesellschaft vorhandenen Wunsch nach Authentizität zwar wider, können ihn jedoch kaum wirklich einlösen. Einerseits hat dies mit dem beschriebenen Umkehreffekt, durch den Realität nun plötzlich ihrerseits dargestellt wird, zu tun, andererseits mit Beschränkungen, die sich durch das Funktionieren des jeweiligen Bezugssystems ergeben. Alleine der Umstand, dass es sich um eine TV-Sendung handelt, zieht derart viele Einschränkungen und Erfordernisse nach sich, dass die Realität am Ende gar nicht anders als zubereitet ausgestrahlt werden kann. Die Auswahl von geeigneten &Mac226;Normalbürgern‘ für eine TV-Sendung widerspiegelt ja als solche überhaupt keine Realität, sondern ist das Resultat aus Überlegungen, mit welcher Mischung sich am meisten Reibereien und Skandale – sprich Einschaltquoten – erzielen lassen.

Auch ein Projekt wie WeAreTheArtists befindet sich in diesem Spannungsfeld, das sich zwischen dem Wunsch nach authentischer Kommunikation und den durch das Medium eines bestimmten Systems vorgegebenen Beschränkungen auftut. Bei der Zeitung von WeAreTheArtists beginnt es lapidar mit der Tatsache, dass sie einen gewissen Umfang hat und es unter Umständen passieren kann, dass nicht alle Texte in ungekürzter Länge Platz haben. Trotz des Anspruchs, die Beiträge der Künstler weder zu lektorieren noch zu editieren, müssen sie also vom Herausgeber manchmal gekürzt werden, womit notwendigerweise eine gewisse Zensur einher geht. Auch bei den Namen der Personen, die in den Erlebnisberichten auftauchen, kollidiert das Reality-Format mit dem Medium, das es in Anspruch nimmt. Trotz der globalen Perspektive ist die lokale Dynamik ja weiterhin gültig und so werden die im Text vorkommenden Personen die Autoren mit grosser Sicherheit erkennen. Die Verwendung von Initialen oder Pseudonymen entschärft diese Situation nur unwesentlich, während sie gleichzeitig ein nicht unwesentliches Zugeständnis hinsichtlich der Authentizität der Berichterstattung ist. Aber nicht nur erwähnte Namen können heikel sein, sondern auch Inhalte: Allein der schiere Anstand und der respektvolle Umgang mit anderen Menschen verbietet es, so manche Konversation, die einer Vernissage den nötigen Pfeffer gibt, zu veröffentlichen. Authentische Kommunikation tendiert nicht nur direkt und gnadenlos zu sein, sie ist bisweilen schlichtweg beleidigend.

Die Autoren von WeAreTheArtists können nicht anders als Teile des Interdependenzgeflechtes des Kunstsystems bleiben; nur deshalb sind ihre Geschichten ja spannend. Die Gefahr, dass ähnlich wie im Reality-TV der Wunsch nach mehr Authentizität am Ende in einer Manipulation derselben endet, ist jedenfalls auch hier vorhanden. Damit ist jedoch noch nicht gesagt, dass eine die Realität darstellende Kommunikation am Ende nicht ebensogut wiederum wahre Aussagen generieren könnte. Wie gut Reality-Formate in der Kunst funktionieren, ob sie mehr als ein Modetrend sind und als fester Bestandteil der Kunstvermittlung taugen, wir sich erst noch weisen müssen.