Dominik Landwehr


Eingefleischte Computermusik
Zu Besuch bei Steim in Amsterdam

Der elektronischen Musik die verlorene Verbindung zum menschlichen Körper zurückgeben - so könnte man die Mission des niederländischen Studio for Electro-Instrumental Music (Steim) umschreiben. Das Zentrum hat sich seit seiner Gründung 1968 bei Musikern und Performance-Künstlern in der ganzen Welt einen guten Ruf erworben. Bei Steim entstanden zahlreiche experimentelle Instrumente zum Spielen von elektronischer Musik, in den letzten Jahren kamen Software für den Macintosh und eine Ausstellung für Kinder dazu.  

dol. Das Steim-Zentrum* liegt mitten im historischen Kern von Amsterdam an der Achtergracht und besteht aus einigen Räumen, einer Werkstatt und einem Gästehaus. Steim steht für «Studio for Electro-Instrumental Music». Das Zentrum hat sich seit seiner Gründung im Jahre 1968 bei Musikern und Performance-Künstlern in der ganzen Welt einen guten Ruf erworben. Es atmet den leicht chaotischen Geist eines selbstverwalteten Kulturzentrums der siebziger Jahre und hebt sich damit von der klinischen Sachlichkeit grosser Institutionen, wie des Zentrums für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe, ab. Der elektronischen Musik die verlorene Verbindung zum menschlichen Körper zurückgeben - so könnte man die Mission von Steim umschreiben.

Klingende Kistchen

Bei Steim in Amsterdam entstanden zahlreiche experimentelle Instrumente zum Spielen von elektronischer Musik, in den letzten Jahren kamen originelle Software für die Macintosh- Plattform und eine Ausstellung für Kinder dazu. Im Keller des engen Alstadthauses sind einige der Erfindungen der letzten 30 Jahre aufgestellt.

Es sind experimentelle Installationen, die bis auf einige wenige Ausnahmen nie in grösseren Serien angefertigt wurden. Eine solche Ausnahme ist gerade eines der ältesten Geräte von Steim: «The Crackle Box». Nicht ohne Stolz zeigt der Gründer des Zentrums, Michel Waisvisz, das unscheinbare hölzerne Kästchen. Fährt man mit den Fingern über die auf der Aussenseite der Box angebrachten Leiterbahnen, so ertönen die merkwürdigsten Geräusche. Von dem experimentellen Musikinstrument, der «Crackle Box», wurden im Lauf der Jahre einige tausend Exemplare verkauft. «Wir haben nie Werbung dafür gemacht, die Leute kamen einfach und fragten nach dem Instrument.»

Die Truppe um Michel Waisvisz kümmert sich mit spezieller Hingabe um Kinder, davon zeugt etwa ihre Ausstellung «Touch», die 1998 in Amsterdam gezeigt wurde und die nun für Ausstellungen in weiteren Städten in Europa vorbereitet wird. Die spielerischen und zum Spielen einladenden Erfindungen von Steim sind in dieser Ausstellung im Überblick zu sehen.

Schnurrende Schnüre

Nur wenige Exemplare existieren demgegenüber von einer anderen Installation, die ebenfalls im Keller aufgebaut ist: «The Web». In einem fünfeckigen Rahmen mit einer diagonalen Spannweite von etwa einem Meter sind Schnüre gespannt, die sich gegenseitig berühren. Zupft man an einer dieser Schnüre, so bewegen sich alle anderen mehr oder weniger mit. Je nach Art der Berührung ertönen verschiedene Tierstimmen. Am Ende jedes Kabels sitzt ein zugempfindlicher Sensor, der wiederum mit einem Synthesizer verbunden ist.

«The Web» ist eine der originellsten Entwicklungen des charismatischen Gründers. Von dem Instrument existieren verschiedene Varianten: Neben dem beschriebenen Exponat wurde eine Konzertvariante entwickelt, eine weitere Variante ist mehrere Meter hoch und findet in einer spektakulären Performance der Musikgruppe Sensorband Verwendung. Der Steim-Mitarbeiter Jorgen Brinkmann zeigt im Synthesizer-Labor von Steim eine Variante, die nur gerade 20 Zentimeter hoch ist und von DJ benutzt werden kann.

Singende Sampler

Entwickelt wurden bei Steim in engster Zusammenarbeit mit Musikern und Künstlern nicht nur oftmals spektakuläre Geräte und Instrumente, sondern auch die Basistechniken, auf denen diese aufbauen. Dazu gehört zunächst einmal das in einer kleinen Box untergebrachte Sensorlab, ein Gerät, das analoge Signale von einer Vielzahl von Sensoren - möglich sind über 100 - für Musical Instruments Digital Interface (Midi) übersetzt. So lassen sich wiederum beliebige Synthesizer steuern.

In jüngerer Zeit haben sich die Steim-Mitarbeiter vermehrt dem Software-Bereich zugewandt. Tom Demeyer beispielsweise schuf «Image/ine»: Dieses Programm versetzt einen Musiker in die Lage, während seiner Performance Videoeffekte zu erzeugen und in seinen Auftritt einzubauen. Das Programm «Lisa» ist ein Echtzeit-Sampler, der es dem Musiker ermöglicht, während der Aufführung mit Klangfragmenten, sogenannten Samples, zu spielen.

Schmale Budgets

Nicht alles, was im Steim-Zentrum erfunden wurde, ist neu. Einiges mag in den Labors anderer Institutionen oder in professionellen TV-Studios schon seit längerem existieren. Steim sieht seine Aufgabe aber darin, robuste und vor allem günstige Geräte zu entwickeln, denn die Mehrheit der Künstler, die in diesem Bereich arbeiten, verfügen nur über schmale Budgets.

Darüber hinaus hat das Zentrum aber auch ein künstlerisches Anliegen: Es möchte den Körper und damit den Menschen in die elektronische Musik zurückholen. Musiker - aber auch andere Artisten - wissen, dass es nicht nur eine Intelligenz des Kopfes, sondern auch eine Intelligenz des Körpers, der Hände gibt. Diese Erkenntnisse decken sich mit Resultaten der neueren Forschung im Bereich der künstlichen Intelligenz, wie sie etwa der Zürcher Informatiker Rolf Pfeifer betreibt. Steim wendet sich damit gegen gegenwärtige Tendenzen in der Medien- und Kunsttheorie, welche ein Verschwinden des Individuums und damit auch des Körpers postulieren.

* http://www.steim.nl

Neue Zürcher Zeitung, 14. April 2000