Rayelle Niemann

AUM von Victorine Müller

Eine Einführung in die Ausstellung in der ehemaligen Synagoge in Hohenems, Oesterreich

AusZeit - so heisst das Projekt, das seit Juni dieses Jahres in den Räumen der ehemaligen Synagoge in Hohenems realisiert wird. In Räumen, die kaum mehr einen Verweis geben auf das, für was sie einstmals gebaut wurden - ein Ort für Menschen jüdischen Glaubens.
Dass diese Räume nun für künstlerische Aktivitäten genutzt werden, ist den Folgen eines Krieges zu "verdanken", der nutzlos und sinnlos war wie alle anderen Kriege und der weiterhin seine Auswirkungen hat.

AusZeit - Ruhezeit, Bedenkzeit - das fordern die Verantwortlichen der ehemaligen Synagoge in Hohenems;
für Räume, die auf Grund der Vernichtung einer Gemeinde, einer Bevölkerungsgruppe zweckentfremdet wurden. Das Gebäude selbst erzählt fast nichts mehr von seiner ursprünglichen Geschichte -
es wurde vernichtet, neutralisiert, umfunktioniert, was auf eine Synagoge hinweisen würde. Gedankenlos, einem befremdlichen Pragmatismus unterworfen, wurde in den fünfziger Jahren entschieden, die Synagoge zu einem Feuerwehrhaus umzubauen -
was im Zusammenhang mit der ursprünglichen Bedeutung von Holocaust,
nämlich Brandopfer, besonders zynisch anmutet.

Bereits in ihrer Performance "Durchströmung" von 1997, die ebenfalls in Zusammenarbeit mit dem jüdischen Museum in Hohenems entstand, nahm Victorine Müller Bezug auf Vergangenes, auf Unterbrochenes, auf verloren Gedachtes und erweiterte damit die lange Reihe einer weit verzweigten Geschichte.
Wenn nicht Menschen wären, die erzählen, wenn nicht überlieferte Erinnerungen wären - gäbe es dann Geschichte? Gäbe es dann ein Fortleben? Eine rhetorische Frage, sicherlich, wir haben keine Erfahrungen damit, erleben wir doch, dass sich Menschen trotz Widerständen immer wieder Geschichte, eine fast verlorene Vergangenheit, vergegenwärtigen wollen.
Die mit Sorgfalt behandelten Ueberlieferungen sind ein Beweis dafür, dass nichts zu vernichten ist mit militärischen Strategien; dass Erinnerungen an Gelebtem, Erleidetem nicht auszurotten ist, auch nicht durch gewaltige Vernichtungsmechanismen, durch materialistisches Machtstreben, durch egomanische Zerstörung.

"...das Geistige kann nicht wirklich zerstört werden...", schrieb Victorine Müller zu ihrer Arbeit "Durchströmung" in der Publikation "Der abgerissene Dialog" -
"Durchströmung", eine Arbeit für die Grenze zwischen der Schweiz und Oesterreich, eine Grenze, an der viele Menschen jüdischen Glaubens durch ihre Zurückweisung auf Schweizer Seite in den sicheren Tod geschickt wurden.

Seit damals sind mehr als fünfzig Jahre vergangen, ein halbes Jahrhundert. Wunden sind noch nicht verheilt, aber es scheint eine Kraft gewachsen zu sein, mit der Geschichte umgehen zu wollen, zu können, den Erinnerungen an die Geschichte im Alltag einen Platz zu geben, auch mit der Mahnung, dass so etwas nie wieder geschieht.

Für mich ist Victorine Müllers jetzige Arbeit "Aum" hier in der ehemaligen Synagoge eine Geste des Respekts, Respekt für all die Menschen, die während das Naziregimes ihr Leben lassen mussten, aber auch Respekt für alle anderen Menschen, die auf eine gewaltsame Weise zu Tode gekommen sind. Respekt für das Leben, das an einem dünnen, seidenen Faden hängt -
eine Manifestation immaterieller Werte.

In einem Haus, das gebaut wurde, damit sich Menschen treffen, inszeniert Victorine Müller eine Videoinstallation, die mit Energie aufgeladen ist.
Es sind keine physisch präsenten Personen im Raum, sondern vielmehr Personen, die als Medium eingesetzt sind. Die Frauen im Video sind Trägerinnen von Tönen, die sich wiederum als Schwingungen im Raum ausbreiten und auf die BesucherInnen übergehen. Die Töne werden durch kreisförmige Bewegungen warmer Farben auf dem Boden visualisiert.

Die starken Bilder der Inszenierung im Video treten hinter das akustische Erlebnis. Die Töne legen sich über die visuellen Eindrücke und weiten sich im ganzen Raum aus.
Wenn auch die Bilder aus bestimmten räumlichen Perspektiven nicht ganz zu erfassen sind, so bleiben doch die Klänge, die zu einem skulpturalen Ereignis werden.

Für Terry Fox, von der Westküste Amerikas stammender früher Performancekünstler, ereignet sich Klang einfach, er kann nicht ausgesperrt werden, er füllt den Raum und verändert ihn, der Klang verändert Stimmungen:
"Klang kann wirklich sehr tief gehen, er kann wirklich bedeutend sein - eine gute Art der Kommunikation".


In Anlehnung an die Kraft, die von Tönen, Klängen ausgeht und die für Rituale in allen Kulturen eine grosse Rolle spielt, bedient sich Victorine Müller Tonschwingungen, die in der altindischen Frühgeschichte zu einem festen Bestandteil der Meditation weiterentwickelt wurden.

Klänge gehen der Entwicklung der materiellen Welt voraus.
Die Vibrationen von Klängen bewirken dementsprechend viel auf feinstofflichen Ebenen, die uns oft gar nicht bewusst sind.
Das Arbeiten mit Klängen und Tönen wird auch in Therapien praktiziert, die der Heilung von seelischen und körperlichen Verletzungen und Krankheiten verschrieben sind :
Lange und tief wird eingeatmet, Energie aufgenommen;
beim Ausatmen wird diese Energie in alle Körperzellen geleitet.
Das "Aum" schwingt ganzheitlich durch den Körper, durch den Körperraum,
schwingt über in den äusseren Raum.
Die Verbundenheit des eigenen Seins mit anderen äusseren Welten kann durch Tonschwingungen intensiv erfahren werden, sie erden, öffnen Geist und Seele.

Victorine Müller nimmt ihre Verantwortung als Künstlerin einmal mehr wahr, grosse Themen menschlicher Belange aufzugreifen und sie in einen künstlerischen Ausdruck zu transformieren, der über einen Auftrag der direkten Bezugnahme hinaus geht und für sich selbst steht.

Künstlerische Artikulationen reflektieren Stimmungen, die, losgelöst aus ihrem ursprünglichen Kontext, sich in Gesten verwandeln.
Vilém Flusser spricht in seinen Arbeiten zur Phänomenologie von "symbolischen Darstellungen" und von der "anderen Vernunft" - deren Vehikel die Kunst ist.
Diese Gesten der Berührungen finden, ähnlich wie die Schwingungen des "Aum", auf feinstofflichen Ebenen statt, die Wissenschaften, so genannten Objektivitäten, versagt bleiben.

Der künstlerische Ausdruck formiert sich an den Schnittstellen zwischen "Realitäten" und Stimmungen, Emotionen, die individuell sind und doch oft auf viele Menschen gleichermassen zutreffen.

Die Kunst wurde immer auch als ein "Streicheln der Seele" eingesetzt und verstanden, als eine Art "Heilung";
wobei der ästhetische Moment als Hinweis auf das Schöne dient, auf das materialisierte Geistige, das den Menschen eine andere Welt eröffnet, eine andere Perspektive ermöglicht, um Vorgänge zu betrachten und Geschehnisse zu verstehen.

So gesehen, können Wirkungen mancher künstlerischer Ausdrücke, die ihre eigene Sprache, ihre eigenen Strategien fortlaufend neu entwickeln und sich doch auf "Altes" beziehen, in verwandtschaftlichen Zusammenhängen mit spirituellen Ausrichtungen betrachtet werden.

Fern von religiösen Dogmen werden komplexe Glaubenszusammenhänge dekonstruiert, ihre symbolischen Zeichen aus verschiedenen Kulturen zusammengetragen, um Kontemplationen in unserer hektischen und immer schneller werdenden Zeit Raum zu geben.

Gerade die Performancekunst wird immer wieder in die Nähe religiöser Rituale gerückt, als westlicher Ausdruck schamanistischer Aktionen. Joseph Beuys hat dieser Definition mit seinen intensiven Performances grossen Vorschub geleistet, in dem er u.a. durch "das Sprechen mit Tieren" Ebenen betrat, die nicht mit dem Intellekt zu verstehen, nachzuvollziehen sind, sondern Intuition und Unterbewusstes ansprechen.
Auch mit der Verwendung von Materialien, die erst durch seine Handanlegung und Positionierung im Kunstkontext zu einer "Veredelung" gelangten, knüpfte er Verbindungen und leistete Verweise zu archaischen Kulturen.

Jean-Martin Huber liess sich durch solche künstlerischen Strategien 1989
für die Ausstellung "Magiciens de la Terre" in Paris inspirieren, eine Ausstellung, die durch Gegenüberstellungen von künstlerischen und
zeremoniellen Praktiken u.a. Fragen der künstlerischen Positionierungen und Aufgaben innerhalb verschiedener Gesellschaften und Kulturen nachging.


PerformancekünstlerInnen stellen ihre eigenen Körper als Transformatoren zur Verfügung. Die im Raum erzeugte Spannung durch Konzentration und Unmittelbarkeit der ProtagonistInnen geht auf die Anwesenden über, die ihrerseits mit ihrer Präsenz die Performance erst zu dem machen, was sie ist:: ein Prozess, der zeit- und ortsgebunden stattfindet und danach als Erinnerung, als Energie weiter besteht und wieder transformiert wird. Dabei gewesen sein, das direkt Erlebte kann zwar sprachlich und über Reproduktionsmedien vermittelt werden, doch ist die Qualität nicht zu vergleichen mit dem Ereignis selbst.

Durch die Verwendung des Mediums Video in dieser Installation bedient sich Victorine Müller zwar genau eines solchen Reproduktionsmittels, doch findet hier eine Erhöhung des indirekten Geschehens statt, indem es als Traumsequenzen oder Erinnerungsmomente wahrgenommen werden kann Damit wird ein Bezug zu der nicht mehr direkt erfahrbaren Geschichte dieser Räume herstellt, zu den Menschen, die ihn einst benutzten.
Das Unmittelbare entwickelt sich mit den BesucherInnen, die in das Energiefeld eintauchen, das sich aus Tönen und intensiven Farben aufbaut - so werden sie Teil dieses Rituals, dieser Meditation. Sie nehmen einen selbstständigen Platz ein und tragen diese Schwingungen über den Moment der Anwesenheit im Raum hinaus nach Aussen.
Die Inszenierung von "Aum" in der ehemaligen Synagoge von Hohenems beansprucht Zeit, sich einzulassen, beansprucht Offenheit, um die Gesten vor der Vergangenheit im Heute und in der Zukunft wirken zu lassen.
Der abgerissene Dialog wird ein weiteres mal aufgenommen und fortgesetzt.



© Rayelle Niemann, Zürich, Oktober 2001