Hans Renggli

Umstrittener Künstlerkoloss

Am 16. Januar jährt sich der 100. Todestag des Schweizer Malers Arnold Böcklin (1827 - 1901)

Der 1827 als Sohn eines Kaufmanns in Basel geborene Böcklin zählt heute zu den herausragendsten Künstlerpersönlichkeiten des späten 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Kulturkreis. Unleugbar war Böcklin ein Künstlerkoloss, der mit ungewöhnlicher Kraft und handwerklicher Bravour seine scheinbar ach so gegenwartsfremde Bildwelt schuf. Aus kunsthistorischer Sicht allerdings wurde seine Bedeutung immer wieder bezweifelt. Dennoch lebt Böcklin nicht zuletzt im Bewusstsein der Gegenwartskünstler weiter. Ein jüngstes Indiz seiner ungebrochenen Aktualität ist die Ausstellung "Hypermental" im Zürcher Kunsthaus. Auf Plakat und Katalog-Cover wirbt das Kunstspektakel mit dem Gemälde "Böcklin‘s Tomb". Der Amerikaner Glenn Brown malte das Bild 1999 als Science Fiction-Paraphrase von Böcklins berühmter "Toteninsel". Und auch Jeff Koons hat sich bei ihm bedient, als er 1990 in der Fotoserie "Made in Heaven" mit seiner Gespielin Ilona Staller moralfrei die geschlechtliche Sinneslust zelebrierte. Sowohl die Posen wie der unwirtliche Felsblock, auf dem sich das Paar räkelt, zitieren Böcklins "Triton und Nereide" von 1875.

Solche Beliebtheit ist erstaunlich für einen Maler, der sich im Zeitalter der industriellen Revolution und des Siegeszugs der Wissenschaften einer scheinbar so verstaubten Thematik zuwandte wie der antiken Götterwelt. Wie kein anderer liess er sich von den Mythen faszinieren, während es gleichzeitig in der Kunst ein starkes Bestreben gab, die Wirkungsmacht der Antike zu brechen. Der rasante Fortschritt und die grossen gesellschaftlichen Umwälzungen hatten im 19. Jahrhundert zu einem kollektiven Gefühl der Rückhaltlosigkeit geführt. Die Anlehnung an vergangene Kulturen im sogenannten Historismus spiegelte die unglückliche Suche nach einer verbindlichen Form, die einer modernen, pluralistischen Gesellschaft versagt bleiben muss. Diese Situation spaltete die Künstler in Realisten, die sich den Fakten der Gegenwart stellen wollten, und Weltflüchtige.

Von Böcklin wird behauptet, er habe sich aus Weltekel in seine Fantasiewelt zurückgezogen. Als er als jugendlicher Kunststudent in Paris weilte, war er in den revolutionären Wirren von 1848 Zeuge geworden, wie einige seiner Akademiekollegen zur Exekution geführt wurden. Böcklin emigrierte darauf nach Italien, wo er künftig die meiste Zeit seines Lebens zubrachte, und wandte sich dem Studium der unberührten italienischen Campagna zu. Bei diesem Naturstudium entwickelte er sein stupendes Repertoire als romantischer Stimmungsmaler. Die Bilder spiegeln seine Sehnsucht nach einer aussergeschichtlichen Existenz. Klein und in die Natur eingebettet lässt er zuweilen Wesen aus der Mythologie auftreten, vor allem Pan, der bocksfüssige Gott der Berge und Wälder, der wie auf einem Gemälde von 1854 die Syrinx verfolgt oder mit seiner Flöte die Hirten erschreckt. Das Hauptwerk jener Zeit, "Pan im Schilf",1857, weist bereits voraus auf das grosse inszenierte Figurenbild, dem sich Böcklin später zuwandte. Das mythologische Personal dieser Bilder ist dann zuweilen aus moderner Sicht von einer Absurdität, die Böcklin durchaus bewusst war und mit der er ironisch spielte. Denn naiv war er nicht. So hat er sich bei der Darstellung seiner Zwitterwesen, den Sirenen und Kentauren, um anatomische Glaubwürdigkeit bemüht und dafür sogar die zoologische Literatur studiert.

Er war überhaupt ausserordentlich belesen. Von daher erwuchs ihm auch der Hauptvorwurf der Kunstkritik, die in ihm einen literarischen Künstler sah, der seine Bilder aus Gedankenversatzstücken collageartig zusammensetzte statt genuin bildnerisch zu denken und zu empfinden. Aus ihrer Sicht hatte Böcklin im Gegensatz zu den französischen Impressionisten nichts zur Entwicklung der modernen Kunst beigetragen. Als mächtig erwies sich besonders die Stimme des deutschen Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe, der mit seinem 1905 veröffentlichten Buch "Der Fall Böcklin" dem unterdessen populär gewordenen Maler den Prozess machte. Reproduktionen der Toteninsel, von der Böcklin mehrere Fassungen gemalt hat, hatten bis in die kleinbürgerlichen Haushalte hinein Verbreitung gefunden. Der Massenerfolg erreichte Böcklin kurz vor dem Fall. Denn schon bald blieb ihm nur noch der Ruf eines verkitschten Salonmalers der Gründerzeit. Die moderne Kunstgeschichte verdrängte ihn für lange Zeit aus ihrem Blickfeld.

Als die Surrealisten den italienischen Erfinder der "Metaphysischen Malerei" Giorgio de Chirico (1888 - 1978) begeistert als einen der ihren begrüssten, verschwiegen sie geflissentlich die anrüchige Quelle seiner Inspiration. Denn de Chirico hat Böcklin zeitlebens unverhohlen als seinen Lieblingsmaler verehrt. Er galt ihm als der "einzige metaphysische Maler". 1911 äusserte er mit Blick auf Böcklin: "Ein Gemälde muss stets eine tiefe Empfindung spiegeln, wobei tief soviel bedeutet wie fremdartig, ungewöhnlich oder völlig unbekannt."