Hans Renggli
Das Unheimliche ist die Wunde im Selbstbild
Unheimlich heisst die jüngste Ausstellung des Fotomuseums Winterthur.
Kurator Urs Stahel ortet in der aktuellen Kunst einen Trend, das "Potential
des Unheimlichen" stärker einzusetzen. Bis 24. Mai
Das Unheimliche finde sich heute nicht wie im Märchen im tiefen, dunkeln
Wald, es sei an jeder Ecke des Alltags anzutreffen, meint Stahel. Es steht
gerade vor uns, ist in uns selbst und trägt meistens die Maske der
Normalität. Die Ausstellung konkurrenziert nicht mit der Unterhaltungsindustrie,
die immer häufiger und quotensteigernd auf Horror und Schockierung
setzt. Ihre Erörterung des Unheimlichen geschieht weit subtiler und
psychologischer. Es werden Arbeiten von fünf Künstlerinnen aus
vier Nationen gezeigt (USA, GB, I, F), die zwischen 28 und 37 Jahre alt
sind. Dass es ausschliessliche jüngere Frauen sind, entspricht keiner
konzeptuellen Absicht. Das Ergebnis hat Stahel selbst überrascht.
Dennoch ist diese weibliche Dominanz aussagekräftig und zeittypisch.
Das Thema nämlich, sofern es wie hier auf Innenweltliches bezogen wird,
berührt nicht nur Ebenen des Intimen, sondern auch eigentliche Tabuzonen
der Persönlichkeit. Und in Bezug auf die Darstellung dieser Bereiche
haben Frauen heute einfach mehr Freiheit. Nur sie können es sich überhaupt
leisten, Bilder zu machen, die mit unterschwelliger Gewalt und Sexualität
zum Platzen vollgepackt sind. Sexualität ist in der Kunst zum exklusiven
Thema der Frauen geworden, während sich männliche Künstler
allenfalls noch in der homosexuellen Variation dazu äussern.
Bei der Mehrzahl der Künstlerinnen kristallisiert sich das Unheimliche
an der Frage nach der geschlechtsspezifischen Identität. Inwiefern
wird Identität durch die Sozialisation geformt oder deformiert. Das
Unheimliche wird als konstantes, unvermeidliches Element jeder Selbstbewusstwerdung
erkannt. Wo Individuen, hier spezifisch junge Frauen, ihre Identität
ergründen, tun sich Abgründe notwendig auf. Weiss ich, wer ich
bin? Gerade das Foto verführt mit seinem abbildenden Verismus zum Glauben,
das das Sichtbare das Wirkliche sei. Doch, was die Künstlerinnen an
Alltag und Normalität zu Bild bringen, trügt. Zwischen der sichtbaren
Welt und dem Subjekt ist ein Riss, ein klaffende Wunde. Die dargestellten
Personen sind Mädchen und Frauen. Männliche Wesen kommen nur bei
der Britin Wendy Mc Murdo vor, und da nur in der ungefestigten, geschlechtlich
gedämpften Anwesenheit des Kindes. Mc Murdos Bilder repräsentieren
eine scheinbar heile, kleine Kinderwelt. Zwillinge spielen Theater auf einer
fast leeren Bühne. Dann sieht man, dass es sich nicht um echte Zwillinge
handelt. Das Mädchen sitzt mit sich selbst am Tisch, frontal und im
Profil. Der perfekte Spuk verdankt sich digitaler Bildmanipulation, mit
der Mc Murdo Elemente des Fotos verdoppelt, verschiebt oder verschwinden
lässt. Dies ist auch der Fall bei den Kindern, deren Spielzeug - ein
Computer - weggezaubert wurde. Die rituelle Geste ihrer Hände, ihre
in die Leere gerichtete Aufmerksamkeit evoziert ein Anderes, das ihre beschauliche
Anwesenheit im Kinderzimmer ins bodenlos Unheimische verschiebt.
Persönlichkeit ist das Resultat von Sozialisation. Nüchtern betrachtet
ist der Anteil des Fremden gegenüber dem Eigenen erschreckend gross.
Von aussen kommende Prägung visualisiert die Französin Natacha
Lesueur mit
Bildern von Körperteilen - Knie, Hals, Po - auf denen Gegenstände
wie Brandstempel schmuckähnliche Prägungen hinterlassen haben,
deren Anblick gleichzeit Lust am Schönen und Schmerzempfinden hervorruft.
Eine Ambivalenz auch zwischen Sehlust und Ekel lösen ihre Aufnahmen
von Frauenköpfen aus, die einen helmartigen Kopfputz aus kunstvoll
arrangierten Lebensmitteln (Blumenkohl, Wurstwaren, Spaghetti, Blumenkohl)
tragen.
Anna Gaskell (USA) inszeniert in einer an Alice in Wonderland angelehnten
Bilderserie verdichtete Reminiszenzen früher weiblicher Selbsterfahrung.
Das Mädchen Alice im adretten Sonntagskeidchen mit den süssen,
weissbestrumpften Beinchen scheint in ein Doppelspiel zwischen aktiver Verführung
und passivem Erleiden gewalttätiger, latent sexueller Übergriffe
verwickelt. Lewis Carrol, der Autor von "Alice in Wonderland",
repräsentiert hier mit seiner kunstzeugenden Pädophilie den geliebt-gefürchteten,
in der Abwesenheit anwesenden Mann.
Auch Dana Hoey (USA) thematisiert Gewalt als das lauernde Böse, als
tickende Zeitbombe dunkler Leidenschaft, die im Alltag allgegenwärtig
ist. Das Unheimliche blitzt im Detail auf, im gläsern-funkelnden Auge
eines Hundes, der von einer Frau spazierengeführt wird, im roten Klebband,
das den Mund eines von einer Erwachsenen gepeinigten Kindes verschliesst
oder eine wie zum Schlag erhobene Hand im Bild zweier Frauen, die sich am
Strand vergnügen.
Zugleich bizarr-befremdend und faszinierend ist die Methode, mit der die
Italienerin Vanessa Beecroft die Erfahrung der Verdinglichung des Körpers
zum Objekt voyeuristischer Begehrlichkeit auf die Spitze treibt. Ausgangspunkt
ihrer Fotos sind Performances, in welchen sie Frauen ausdrücklich
als Fetische zur Schau stellt. Beecroft reduziert die Individualität
der Modelle durch gleiche Perücken, gleiches Make-up auf ein reines
weibliches Stereotyp. Aufgesockelt durch High Heels und angetan mit spärlichen
Kleidungsattributen zwecks Akzentuierung der Entblössung, stehen sie
regungslos und ausdruckslos da wie Statuen. Das Unheimliche an den Bildern
liegt in der Totalität der Entselbstung. Die Frauen sind schöne
Hülsen, von deren Leichenblässe eine gefährliche, lebensabgewandte
Verführung ausgeht, welcher zu allererst - so scheint es Beecroft sagen
zu wollen - die Frauen selbst verfallen.
Katalog