Hans Renggli
Ein Meister der subjektiven Reportage
W. Eugene Smith ist ein Mythos der Epoche der Reportagefotografie, deren
Flaggschiff die Zeitschrift Life war. Henry Bond rauscht durch die Londoner
Szenen der neunziger Jahre. Zwei Ausstellungen im Fotomuseum Winterthur.
W. Eugene Smith schrieb Fotogeschichte als einer der grossen Reportagefotografen
des Jahrhunderts. Er kam 1918 zur Welt und starb 1978 mit sechzig. Smith
der sich selbst grundsätzlich immer das Vielfache eines geforderten
Pensums abforderte, hatte seine enormen Kräfte aufgezehrt. Ihm geht
der Ruf des Schwierigen nach, der nie zufrieden war mit dem Umgang, den
die Abnehmer seiner Reportagen und Fotoessays pflegten. Namentlich das Foto-Nachrichtenmagazin
Life, das in den dreissiger bis fünfziger Jahren den unerreichten Standard
für die Reportagefotografie setzte, begleitet schicksalhaft seine Triumphe
wie seine bittersten Enttäuschungen.
Smith' Verdienst ist es, dass er als einer der ersten, und radikal wie
keiner, seinen Reportagen einen subjektiven Stempel aufdrückte. Er
wollte mehr als das neutrale, für sich selbst sprechende Dokument.
Ihm ging es darum ein Faktum zu interpretieren, seinen Gehalt bildnerisch
zu verdichten. Dies gelang ihm dank der Intensität, mit der er sich
in ein Thema bis zur erschöpfenden Identifikation hineinarbeitete.
Und seine emotionale Nähe zu den Motiven trug er vom Schauplatz heim
in die Dunkelkammer, wo er als magischer Alchimist an seinen Abzügen
feilte und sie zu höchster Expressivität steigerte. In dieser
Intensität gründete auch sein Dilemma, das ihn lebenslang begleitete.
An sich selbst stellte er die Ansprüche eines Künstlers, seinen
Auftraggebern aber galt er als Journalist, der termingerecht brauchbares
Material zu liefern hatte.
Am extremsten strapazierte Smith seine Ressourcen 1955 bei der Arbeit
über die Industriestadt Pittsburgh, ein Arbeit die in seinem Werk als
ein grossartiger Koloss dasteht. Smith hatte einen Kleinauftrag mit einem
Zeitlimit von drei Wochen vom Verleger Stefan Lorant erhalten. Es kam sehr
schnell zum Bruch mit Lorant, der ihm nicht nur den übertriebenen Aufwand
sondern auch seine von der beschreibenden Fotografie völlig abweichende,
visionäre Wahrnehmung Pittsburghs vorwarf. Smith, besessen von seinem
Gegenstand, machte allein weiter, belichtete während Monaten 11'000
Negative. Mit Pittsburgh sprengte Smith den Rahmen des Foto-Essays und schuf
einen fotografischen Jahrhundertroman von epischer Dimension. Das geniale
Werk stürzte ihn in Mittellosigkeit und eine berufliche wie private
Existenzkrise. Er musste sich von der Agentur Magnum trennen, in die er
eben erst, nach dem endgültigen Bruch mit Life, aufgenommen worden
war. Ein wenig milderten den Schaden zwei Guggenheim-Stipendien, die er
im Herbst 1955 erhielt.
Seine Rastlosigkeit, seine prekäre, dramatische Sicht auf das Leben
mögen in seiner Jugend in Wichita, Kansas, angelegt worden sein. 1936
begeht sein Vater, ein Getreidehändler, ruiniert durch die grosse Wirtschaftsdepression,
Selbstmord. Seine Mutter Nettie, eine begeisterte Amateurfotografin lässt
ihn früh die Fotografie entdecken. Schon mit neunzehn ist er technisch
ein Profi und unterstützt mit fotografischen Auftragsarbeiten sein
Studium an der Notre-Dame Universität von Wichita. Nicht lange: Er
entschliesst sich Fotograf zu werden, verlässt die Universität
und geht nach New York. Smith ist jung, hungrig und enorm ehrgeizig, er
will ein grosser Fotograf werden. Die Zeit ist günstig, das Fernsehen
hat noch keine Bedeutung. Der Fotojournalismus blüht, die Fotonachrichtenmagazine
finden ein breites Publikum, allen voran das 1936 gegründete Life.
Er kommt mit seiner Energie schnell ins Geschäft. Mit 23 hat er
bereits 340 mal publiziert, Fotogeschichten und Einzelbilder. Life wird
von 1937 bis 1942 und von 1944 bis 1954 sein Hauptabnehmer. Für Life
produziert Smith 170 Fotoreportagen. 81 mal kommt es zu oft sehr fragmentierten
Publikationen. Smith entwickelt den Foto-Essay zur Meisterschaft. Berühmtheit
erlangt haben Country Doctor(1948) über das Leben eines Landarztes,
Nurse Midwife(1951), die Schilderung des Alltags einer Hebamme in der ärmsten
Bevölkerungsschicht von South Carolina und Spanish Village(1950), ein
Essay, der durch seine formale Geschlossenheit und sublime Ästhetik
besticht. Smith zelebriert die Fotografie als packendes Schauspiel von Licht
und Schatten.
Die grossen farbigen Blow-Ups des Engländers Henry Bond (33) holen
den Besucher aus der Geschichte in die Gegenwart zurück. Bond nimmt
sich das Londoner Stadtleben der neunziger Jahre vor und er hat auch ein
Thema: Menschen, die für ihren Lifestyle leben. Er beobachtet Individuen
und Szene-Gruppen im Hinblick auf ihr Begehren, mehr zu gelten, um mehr
zu sein. Doch die Idealisierung des Status, die in den achtziger Jahren
dank noch nie dagewesener Kaufkraft die Massen der zivilen westlichen Gesellschaften
ergriff, ist bei den schrumpfenden Einkommen der neunziger weit schwieriger
aufrecht zu halten. Sie fordert von den meist jungen Menschen, auf die Bond
seine Kameras ansetzt, eine besondere Anstrengung der "Performance".
In schicken Kleider- und Schuhläden erstehen sie die Labels, die sie
als Obenausschwingende auszeichnen, in Nightclubs und Dancefloors führen
sie sie vor, wobei dann nur allzuleicht, über Extasen und Trunkenheit,
die verletzlichen Masken verrutschen und das gewöhnliche, schäbige
Elend aufscheint. Bond passt sich bei seinen Streifzügen allen Sparten
der Fotografie an, ist je nach Umständen, Modefotograf, Produktewerber,
Reporter oder bespitzelnder Agent. Überzeugend ist vor allem das zur
Ausstellung erhältliche, umfangreiche Buch, das Schlag auf Schlag,
mit immer neuen Überraschungen, einen fortreissenden, pulsierenden
Bilderbogen aufspannt. Eine vergleichbare Dichte bringt die in dem niederen
Raum eng gehängte Auswahl der Vergrösserungen nicht zustande.
Die Ausstellung vermittelt etwas den Eindruck, man habe sich darauf beschränkt,
den Fotoautor Bond zu plakatieren und für sein tolles Buch zu werben.
Bis 14.März.