Hans Renggli
Die Köpfe im Hintergrund
Mit der Inszenierung von "Weltuntergang & Prinzip Hoffnung"
im Kunsthaus steht Harald Szeemann wieder im Rampenlicht. Er ist der Realisator
eines Projekts, das aus der Gedankenküche der Buch-Spezalisten Ernst
Halter und Martin Müller kommt. Ein Doppelportrait.
"Weltuntergang - das ist ein Todesthema", meint Martin Müller.
Tatsächlich gehört die Untergangserwartung selbstverständlich
zum Leben, dafür braucht es keine Prophezeihungen. Trotz seiner Alltäglichkeit
war der Tod den Menschen immer schon ein unbegreiflicher Skandal. Ganz besonders
aber erschüttert er sie, wenn er in Kriegen, Katastrophen oder Seuchen
plötzlich massenhaft auftritt. Potenziert erleben die Menschen dann
ihre Ohnmacht gegenüber dem Tod als die Macht anderer und nennen sie
Schicksalsmächte, Götter, Gott. Was Jugendliche im Saxetbach kürzlich
tragisch erfuhren, ist ein Modell der Sintflut und hilft der Einbildungskraft
auf die Sprünge. Doch solange die Vorstellung von ihr lebt, hat uns
die totale Katastrophe des Weltuntergangs noch nicht ereilt.
Ernst Halter ist überzeugt, dass dies auch nach der Jahrtausendwende
noch der Fall sein wird. Der Historiker, Kunsthistoriker, Schriftsteller
und Verleger hat die Ausstellung zum Weltuntergang ausgedacht. Gerade weil
ihn der Boom der apokalyptischer Prophezeihungen so irritiert, interessiert
er sich brennend für das Thema. "Grässlich" sind ihm
die Verkündigungen der Sekten, Astrologen, Esoteriker und für
"einfältig" hält er die Reaktionen der Leute: "Die
Frau, die Vorräte hamstert, wie kann sie hoffen, dass gerade sie überlebt,
wenn es denn einen Weltuntergang gibt?" Immerhin beweisst es: Das uralte
Thema ist brandaktuell.
Halter plante zunächst das Buch und sicherte sich die Mithilfe des
Büchermachers Martin Müller. Weil aber apokalyptische Szenarien
über die Jahrhunderte die Phantasie der Bildkünstler immer wieder
eindrücklich angeregt haben, dachte er bald auch an eine Bilderschau.
"Ich rechnete mir aus, dass eine solche Ausstellung im Jahr vor der
Jahrtausendwende einen Publikumserfolg auf sicher hat, besonders wenn eine
internationale Kapazität wie Harald Szeemann die Einrichtung übernimmt."
Die Idee deponierte er beim Kunsthaus Zürich, das sich einige Bedenkzeit
liess. Doch dann kam die Zusage vom Haus und von Szeemann.
Für Halter eine Genugtuung. Seit Jahrzehnten investiert er seine
ganze Kraft als Literat, Kunstwissenschafter und Herausgeber. Sein letztes
Buch "Volksfrömmigkeit in der Schweiz" erschien 1999. Doch
trotz häufiger Publikationen und der Anerkennung Eingeweihter, bringt
ihm sein Totaleinsatz fürs Geistige nur knapp das Brot zum Leben ein.
Mit seiner Frau, der bedeutenden Schweizer Lyrikerin Erika Burkart, residiert
er in einem barocken ehemaligen Sommersitz der Äbte von Muri im aargauischen
Reusstal. Das von der Zeit gezeichnete Gemäuer birgt ein abgehobenes
Universum, in dem Gegenwart nur mehr Randnotiz ist. Halter lebt im Geist
ebenso bei den alten Ägyptern, deren zyklische Weltsicht die Vorstellung
eines Weltendes ausschliesst, wie bei den kosmischen Ereignissen, die
Astronomen auf Milliarden Jahre hinaus ermitteln: "Kein Zweifel, das
Weltende ist kosmologisch gewiss". Paradoxerweise ist aber das zentrale
Forschungsthema des überzeugten Wissenschafters Halter der Glaube,
den er ein untilgbares "Absurdum" nennt. Obwohl vom Glauben
noch und noch genarrt, kann der Mensch auf ihn nicht verzichten. Das wurmt
den Wissenden und lässt ihn angesichts der törichten Untergangserwartungen
ausrufen: "Warum Angst und Kümmernis, die süsse Gier nach
Strafe? Warum sind wir unfähig, tapfer das zu leben, was uns gegeben
ist, und den anderen das ihre zu gönnen?"
Das Konzept und die Hauptarbeit an der Textrecherche zum Buch stammen von
Martin Müller. Müller verkörpert ein KMU der besonderen
Art. Der Sitz seiner Firma besteht aus einem Zimmer im Niederdorf, ausgestattet
mit Bücherregal, Arbeitstisch und Computer. Auf der Tür steht
"Büro für Buchprojekte und Texte". Der Germanist und
langjährige Cheflektor beim Artemisverlag stand nach Fusionsturbulenzen
plötzlich auf der Strasse. Das brachte ihn nicht allzu sehr aus der
Fassung, denn er hatte schon lange den Gedanken gehegt, sich selbständig
zu machen. "Ich mache Bücher für gebildete Laien". Sein
neuestes Buch "Unheimlich gemütliche Weihnacht. Weihnachtliche
Geschichten aus der Schweiz", erschien kürzlich bei DTV. Müllers
Spezialität sind Visionstexte und Sprach-Exkursionen in abseitigeTerritorien
des menschlichen Geistes - zum Beispiel in das gelobte Land des Faulenzens,
die er gewitzt und ohne wissenschaftliche Pedanterie durchforscht. Sein
vor Jahren produziertes Text- und Materialienbuch "Schlaraffenland"
bewog Ernst Halter, ihn als Fachkraft zu gewinnen.
Ganz Müllers Handschrift trägt der Abschnitt "Heilige Schriften
und unheilige Texte". Zu altertümlichen und biblischen Textquellen
wählte er auch Kuriosa aus jüngeren Epochen. Eine typische Probe
seines Spürsinn für textliche Exotik bietet ein "literarischer"
Auszug aus dem Schweizerischen Zivilschutzbüchlein: Das fiktive Tagebuch
einer Schweizer Mutter, die nach einem Atombombenabwurf in der Zivilschutzkaverne
moralfördernd ihren häuslichen Pflichten nachkommt, vom Kochen
bis zum Sockenstopfen. Eine andere Trouvaille ist eine Schrift von 1788
eines gewissen Herrn Silberschlag, Inspektor im Dienste Friedrich des Grossen.
Mit wissenschaftlichem Eifer und köstlichen Argumenten glaubt Silberschlag
die geschichtliche Authentizität von Noahs Arche beweisen zu können.
So folgert er scharfsinnig, dass es keine Borkenkäfer auf der Arche
gab, weil diese die herumschwimmenden Baumstämme bewohnten. Auch waren
die Raubtiere nicht genötigt ihre Schicksalsgenossen auf der Arche
zu essen, weil sie an der Masse der Kadaver, welche die Flut anschwemmte,
Nahrung in Fülle hatten.
Ernst Halter / Martin Müller, Der Weltuntergang, Offizin Zürich
Verlags-AG, 1999