Reinhard Storz

"Raum sichten - konstruierte Wirklichkeit"
Vernissagerede vom 7.6.2002

Miriam Bäckström, Claudio Moser, Heidi Specker und Edwin Zwackman wurden für die Ausstellung "Raum sichten - konstruierte Wirklichkeit" eingeladen, mit fotographischen Mitteln auf das Gebäude des Basler Architekturmuseums einzugehen. 8.6. - 11.8.2002

Zur vielleicht ersten Architekturfotografie von 1839 sagte der Fotopionier William Fox Talbot: "Und dies ist, wie ich glaube, der erste überlieferte Fall eines Hauses, das sein eigenes Portrait gemalt hat."
Mit dieser Malerei-Metapher fand Talbot eine überraschende Antwort auf die Frage, wer wie aktiv am fotografischen Bild mitwirkt: das abgebildete Objekt, das Objektiv der Kamera oder das menschliche Subjekt hinter dem Apparat - die Fotografin. Talbot erklärte das Fotomotiv selbst zum Fotografen, wörtlich: zum Lichtzeichner, denn es zeichnet sich selbst im Bild ab.

Antike Denker wie Demokrit und Epikur, aber selbst noch Balzac im späten 19.Jh., glaubten, dass alle Körper unablässig kleine Bilder ihrer selbst aussenden, die wie immaterielle Häutchen in unendlich dünnen Schichten und in unendlicher Zahl auf ihrer Oberfläche kleben. Bei jedem Hinblicken und bei jeder Fotografie werde eine dieser Bildemanationen vom Körper abgelöst.

Ich glaube das auch. Die Häutchentheorie leuchtet mir ein, wenn ich etwa auf die Fensterwände dieses Hauses schaue, auf denen sich unablässig der Film der Ausswelt abspielt. Welch anderes Wissen über die Physik des Sichbaren haben wir schon! Die Wissenschaft weiss noch nicht mal genau, was Licht ist, das doch die Dinge für unsere Augen und auf den Fotos sichtbar macht. Seit 1925 wissen wir nur, dass das Licht eine doppelte Eigenschaft besitzt, je nachdem, welchen Experimenten man es unterwirft. Es hat sowohl korpuskularen als auch Wellencharakter. Es besteht nach heutigem Wissen sowohl aus elektromagnetischen Wellen wie auch aus Teilchen, Korpuskeln, die man Photonen nennt. Weshalb sollten diese Körperchen als Luzifer nicht die Bildhäutchen der Welt in unsere Augen tragen?

Die Frage nach der aktiven Rolle der Fotokamera bleibt dagegen gleich in der Sprache stecken: Tun Werkzeuge, was man mit ihnen tut? Hämmern Hämmer, sehen Augen, fotographieren Fotoapparate? Da würde nach Talbots Haus nun auch noch die Kamera zur Bildautorin. Sagen wir lieber, sie arbeitet Hand in Hand mit dem Fotografen. Vilém Flusser beschreibt das geradezu siamesisch: "In der Fotogeste tut der Apparat, was der Fotograf will, und der Fotograf muss wollen, was der Apparat kann."
Das klingt nach passiv-aggressiver Partnerschaft. Der Ja-Partner, in diesem Fall der Fotograf, holt das Möglichste aus dem Nicht-Nein der Apparatur heraus, egal ob Kamera, Computer oder Bildbearbeitungsprogramm.

Nun schliesslich die Fotografin - die eigentliche: nicht das Haus und nicht die Kamera - der Mensch. "You press the button - we do the rest" hiess ein früher Werbeslogan von Eastman-Kodak. Doch ein blosser Knopfdruck spiegelt im Bild nur die Trivialität des Faktischen, nicht die Seele oder das Wesen der Dinge, wie man es damals dem Bildkünstler noch zugestand und wofür wir heute keine Worte mehr finden.
Die Fotografen und Fotografinnen in dieser Ausstellung wirken behutsam und geduldig, besitzergreifend sind sie allemal. Doch sie gewinnen die Bildhaut der Dinge nicht wie
auf einer kollonialistischen Grosswildjagd, bei der man den erlegten Tieren nur das Fell abzieht und den Kadaver als wertlosen Rest liegen lässt.

Schon etwas treffender ist eine ironische Bemerkung von Olliver Wendell Holmes aus dem Jahr 1859: (Zitat) "Materie in grossen Mengen ist immer immobil und kostspielig: Form dagegen ist billig und transportabel. In Zukunft ist die Form von der Materie getrennt. Denn diese ist in sichtbaren Gegenständen nicht mehr von grossem Nutzen, ausgenommen, sie dient als Vorlage, nach der die Form gebildet wird." "Man gebe uns ein paar Negative eines sehenswerten Gegenstandes (etwa dem Kolosseum oder Pantheon), aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen - mehr brauchen wir nicht. Man reisse dann das Objekt ab oder zünde es an, wenn man will."

Für seine grosse Fotografie im 2. Stock hat Edwin Zwakman das Nachbargebäude des Architekturmuseums abgerissen, die Häuser dahinter auch, und den Horizont hat er ganz tief gespannt, auf holländisches Niveau gewissermassen. Noch nie ragte das Architekturmuseum so einsam-melancholisch empor. In der freigelegten Brandmauer zum abgerissenen Nachbarhaus hat das Museum in Zwakmans Möglichkeitsbild eine neue, zweite Fassade bekommen: archäologisch anmutende Ab- bzw. Aufrissspuren eines vergangenen Treppenaufgangs. Mit unsauberen Steig-Linien und warmen Farbtönen konterkariert diese Abbruch-Fassade die cool-verspielte Rationalität der Fenster-Schauseite aus den 50er Jahren und verbündet sich mit den Erdfarben und -formen einer Aushubgrube, welche das untere Drittel des Bildes einnimmt. Um ein Zwakman-Bild richtig zu beschreiben braucht man Zeit, denn die Beschreibung geht leicht in mögliche Erzählungen über, die im Bild angelegten Fiktionen des Möglichen. Aber Zwackmans Bild lügt nicht, auch wenn die Nachbargebäude real noch existieren, es entwirft Möglichkeiten in der Vergangenheits- und Zukunftsform. Und es zeigt die Wahrheiten einer physischen Inszenierung, denn der Fotograf hat dieses Bild in seinem Atelier an einem realen Modell des Architekturmuseums entwickelt, als Sandkastenspiel, ohne jede digitale Manipulation.

Am Computer nennt man das Abreissen unerwünschter Formelemente Freistellen, per Delete-Taste befreit man das Objekt der pictorialen Begierde von der ungewünschten Bildumgebung. Heidi Specker stellt in ihren drei Fotos Fassadenelemente des Architekturmuseums frei. Doch im Digitaldruck bleibt die weisse geleerte Fläche um die Farbhaut Teil des Bildes, nicht bloss sein neutraler Hintergrund. Die Bildserie erweist sich so als dynamische Zeichenfolge oder Dreiklang einer 'Teilchentheorie', wie der Titel einer älteren Werkreihe von Heidi Specker heisst.
Wenn in Bildern alles Zeichen ist, ist durch die Freistellung dem Weiss in der Bildfläche das Signifikat abhandengekommen. So wird das Weiss wieder zur reinen, bedeutungsfreien Physis, ein Reflektor für den Strahlenkörper des Lichts.
Dinge, nicht Zeichen, sind auch die Akustikplatten, ein weiteres Flächenelement in Heidi Speckers Raum. Sie sind einem nicht begehbaren Binnenraum vorgeblendet, schlucken Schall und strahlen das Licht in die nahe Fensterfassade zurück. Der Titel der drei Fotodrucke, sie heissen 'AM Fading', bezeichnet gut die sich überblendenden Realitätsgrade in der gesamten Rauminstallation.

Die Fotografinnen und Fotografen im Architekturmuseum konstruieren und rekonstruieren Wirklichkeiten, nur zu Talbots Zeiten haben Häuser sich selbst portraitiert. Es geht um ein verzwicktes Spiel mit Differenzen von Abwesenheit, dinghafter Präsenz und bildlicher Repräsentation. Wie Miriam Bäckström zu ihren vier scheinbar einfachen Bildern kam, muss man erzählen. Sie verbrachte 24 Stunden im Architekturmuseum und dokumentierte den wechselnden Lichteinfall auf eine Wand im 4.Stock. Licht ist Natur, was sonst, und eine weisse Wand ist nicht nur im Museum ein Bildträger. Zu jeder Zeit, auch jetzt, enthält die Wand ein Lichbild für unsere Augen, auch wenn wir uns dessen kaum bewusst werden. Miriam Bäckström fotografierte diese wechselnden Lichtbilder auf der Wand und legte schliesslich vier Fotos, je eins vom Morgen, Mittag, Abend und Nacht, einer Filmkompanie in Stockholm vor, mit dem Auftrag, Wand und Lichstimmungen nachzubauen, die in der Fotografie dokumentierte Realität künstlich zu reinszenieren. Die Wand hier wurde also von einer Wand dort nachgespielt, das Pfluggässlein-Licht durch schwedisches Filmlicht. Gezeigt werden hier jetzt die Drittbilder, also Fotos von der Inszenierung, und das Erstbild, die Wand des Architekturmuseums im natürlich wechselnden Licht.

Einen Licht-Einfall hatte auch Claudio Moser im obersten Stockwerk der Ausstellung. Jeder Raum mit Fenster ist eine Camera Obscura mit weit geöffneter Blende. Was sich vom Morgen bis nachts im Raum als Eigenbild abspielt zeigt der Künstler beschleunigt in einem Video, die Änderung der Lichtverhältnisse verkürzt auf 35 Minuten. Sichtbar wird so im Film eine allmähliche Überblendung der Spiegelbilder von Innenraum und Aussenraum im Fenster, die Metamorphose realer und virtueller Lichträume. Auf den ersten Blick sehen wir den beschleunigten Film als stehendes Bild, erst wenn wir uns Zeit nehmen und länger hinschauen, beginnt sich auch in der Fotografie am Monitor die Zeit zu regen.
Wie die vier grossformatigen Fotografien an den Wänden des Raums zeigt uns auch das zweite Video vertikale und horizontale Raumdurchdringungen. Vom Erdgeschoss bis in die oberste Etage schreitet der Fotograf in einer grossen Spirale das Treppenhaus und die Räume ab und hält die Kamera leicht seitwärts auf Hüfthöhe, wie einen Bildfühler. In schlendernden, tastenden Bildern wird so die Architektur des Museums durch den menschlichen Körper in Bewegung gesetzt.

Der Titel der Ausstellung heisst "Raum sichten - konstruierte Wirklichkeit". Das trifft das Zusammenspiel von Architektur und Architekturbild in dieser Ausstellung bestens. Die Künstler und Künstlerinnen haben dem Haus unerwartete Bilder entlockt und für diese Bilder haben sie selbst gebaut, interveniert und inszeniert. Doch immer steht vor der Bildantwort ein neugieriges Hinschauen, Hinfühlen und Hindenken, das jetzt auch für uns Betrachterinnen die richtige Wahrnehmungsart sein wird.