Digitale Kunst

Reinhard Storz

Als Arbeitsgerät für die Herstellung von Bildern wird der Computer in der Bildenden Kunst bereits seit einem halben Jahrhundert eingesetzt. Seither findet man Einflüsse digitaler Techniken in der konzeptuellen Malerei, in interaktiven Kunstprojekten, in Werken der Appropriation Art und als Kommunikationsmedium gesellschaftskritischer Projekte. Zur selben Zeit begannen andere Künstler Maschinenskulpturen zu bauen und mit technischen Bildmedien wie Fotografie, Siebdruck und Video zu arbeiten. All diese neuen künstlerischen Werkideen entstanden im Kontext einer industrialisierten Gesellschaft, in der immer mehr Lebensbereiche durch Informationstechnologien und Digitalisierungsverfahren verändert wurden. Heute spielen digitale Techniken in unserer Gesellschaft eine dominante Rolle, sei es in den Massenmedien oder in den bildgebenden Verfahren der Wissenschaft.
Die Ästhetik digitaler Bilder und die Praxis der softwaregestützten Bildmanipulation nimmt auch auf die Bildideen vieler Künstlerinnen unserer Zeit Einfluss, unabhängig davon, ob sie selber digitale Bildtechniken verwenden. Wie für die Generation von Andy Warhol der Hollywood-Film und für die Generation von Cindy Sherman das Fernsehen die einflussreichsten Medien waren, werden jüngere Künstlerinnen und Künstler heute durch die Ästhetik von Computerspielen und durch die digital bearbeiteten Filmformate im Internet, in Werbe- und Musikclips geprägt.
Angefangen hat die Nutzung des Computers als Bildmedium in den Bildkonzepten der «Konkreten Kunst». Ihre Bilder zeigten «systematisch durchbuchstabierte Formenvokabulare», basierend auf einer «wissenschaftlich konnotierten Strukturalität».1 Mit oder ohne Computeranwendung entwickelten diese Künstler Bildkonzepte, welche am Anfang der Entwicklung aller Computergrafiken stehen. So kommentierte der Schweizer Grafiker und Künstler Karl Gerstner seine im Jahr 1963 erschienene, programmatische Schrift ‚Programme entwerfen’ mit den Worten: «Ich habe nie Bilder entworfen, sondern Algorithmen, aus denen Bilder abzuleiten sind.»2
War die erste Künstlergeneration für ihre Arbeit mit Computern auf die technische Unterstützung durch Hochschulen angewiesen, kamen seit den 1980er-Jahren Personal Computer als erschwingliche Arbeitsgeräte auf den Markt. Digitale Bildtechniken wurden in der Arbeitspraxis vieler Gestalter und mancher Künstlerinnen immer wichtiger. Und auch die Kunstausbildungen begannen, ihre Studierenden mit PC-Stationen, digitalen Fotoapparaten, Plottern und mit digitalen Video-Schnittplätzen vertraut zu machen. Vereinzelt entstanden spezialisierte Studiengänge für digitale Medienkunst.
Die Digitalisierung technischer Bildmedien wie Fotografie und Video setzte sich innert weniger Jahre durch. Erfolgreiche Künstlerinnen und Künstler wie Andreas Gursky oder Pipilotti Rist benutzen für die Produktion ihrer Werke heute selbstverständlich digitale Techniken. Diese lassen sich in ihren Werken für unerfahrene Betrachter allerdings nicht ohne weiteres erkennen, weiterhin spricht man bei den Werktechniken vereinfachend von Fotografie und von Video.
Eine rasante Entwicklung legten auch die sogenannten 3D-Bildtechniken vor. Von der Bildtheorie bisher noch fast unbemerkt haben diese digitalen Zeichentechniken viele angewandte Bildbereiche in Industrie, Wissenschaft und Unterhaltung erobert. Hier geht es um originär digitale, softwarebasierte Bildformen, die keine fotografischen Ursprünge haben, das Aussehen von Fotografien aber nicht selten simulieren. Lev Manovich spricht im Zusammenhang mit dieser Täuschung vom «Paradoxon der visuellen digitalen Kultur». Diese Computergrafik wirke im Vergleich zur Fotografie oft zu perfekt, zu real. Das synthetische Bild entbehre sowohl der Beschränkungen des menschlichen Blickes als auch derjenigen des Kamerablickes.3 In der künstlerischen Arbeit tritt die 3D-Bildtechnik heute das Erbe der Grafik und der Malerei an, ornamental-abstrakte Positionen wie die von Peter Kogler und Takashi Murakami stehen eher narrativen Projekten wie denjenigen von Studer/van den Berg, Yves Netzhammer oder Cao Fei gegenüber.
Anders als ihre Kolleginnen aus den angewandten Gestaltungsmetiers benutzen erst wenige Künstler digitale, vervielfältigbare Bildformen. Sieben Jahrzehnte nach Walter Benjamins Aufsatz ‹Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit› bedienen sie den Kunstmarkt weiterhin mit wertvollen Unikaten. Ohne Druck kümmert sich der Kunsthandel aber kaum um Strategien, reproduzierbare Kunstwerke handelbar zu machen. So gehen bisher von beiden Seiten, von Künstlerinnen wie Galeristen, erst wenige Impulse aus für eine wirtschaftlich tragfähige Entwicklung der digitalen Kunst.4 Ob und wie die ökonomische Neuorganisation in den Schwesterkünsten – bei den Tonträgern in der Musik, bei den E-books und Print-on-demand-Formen in der Literatur und bei den Film-Downloads – in nächster Zeit auch die bildende Kunst erreichen wird, ist schwer abzusehen.
Weil viele Künstler als Bildproduzenten in unserer Kommunikationsgesellschaft ihre Werke mit vorindustriellen Verfahren herstellen, nennt sie der Kunstphilosoph Boris Groys «die letzten Handwerker der heutigen Moderne.»5 Im Grunde ist der Computer aber ein ideales Gerät für Handwerker – schliesslich ist er eine frei programmierbare Rechenmaschine, die sich für unterschiedlichste Zwecke einsetzen lässt. So entdeckt der Soziologe Richard Sennett in seinem Buch ‹The Craftsman›den freischaffenden Linux-Programmierer als neuen Typus eines Handwerkers.6 Auch im Atelier des Künstlers wird die Handarbeit des Malens und plastischen Gestaltens erweitert durch die diszipliniert-geduldige Programmierarbeit und durch die Bildbearbeitung am Computer. Trotz Abhängigkeit von den Industriestandards der Computertechnik spielen Künstlerinnen ein subversiv-ironisches Spiel mit und gegen die Programmiertechnik des Internets, von Web 2.0-Anwendungen und Computerspielen. Bekannte Exponentinnen von medien- und gesellschaftskritischen Kunstansätzen sind etwa die Künstlergruppen Knowbotic Research, The Yesmen und Etoy oder Oliver Laric als Vertreter einer jüngeren Generation. Andere Künstlerinnen setzen Hacking als künstlerische Strategie ein (!Mediengruppe Bitnik), dekonstruieren die Ästhetik von Computerspielen (Jodi, Miltos Manetas), entwerfen neue, multimediale Erzählformen (Olia Lialina, Esther Hunziker, jimpunk) oder entwickeln Verfahren zur Visualisierung des digitalen Datenverkehrs (Lisa Jevbratt/C5, Franz John, Marc Lee). Wie Christiane Paul in ihrem Standardwerk zur digitalen Kunst schreibt, ist mit dem Aufkommen digitaler Technologien die dynamische Visualisierung von Datenflüssen ein wichtiges Forschungsgebiet sowohl der Wissenschaft wie der digitalen Künste geworden.7
Während etablierte Kunstinstitutionen auf die digitale Medienkunst eher defensiv und abwartend reagierten, war diese um die Jahrtausendwende eingebettet in einen intensiven medientheoretischen Diskurs und in das Bewusstsein, mit ihren Kunstkonzepten im Brennpunkt der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung zu agieren. Symposien, Festivals und viele Buchpublikationen brachten in die Auseinandersetzung um Kunstprojekte, Kommunikationsästhetik und Gesellschaftstheorie eine Dynamik, wie sie in kaum einem anderen Kunstbereich zu finden war. Der interkulturelle Austausch, zuerst zwischen West- und Osteuropa, dann im Zeichen der kulturellen Globalisierung zwischen den Kontinenten, wurde in der Kooperation und in der Rezeption digitaler Kunstprojekte schnell zur Selbstverständlichkeit Als offener Kommunikationskanal brachte das Internet schliesslich eine digitale Kultur hervor, die - quer durch die sozialen Schichten - eine erstaunliche kreative Kraft aufweist. Partizipationsprojekte wie Wikipedia, das Phänomen der Kleinfilm-Produktion für jedermann auf Youtube, elaborierte Amateur-‹Maskenspiele› in Online-Games und Second Life, Blog- und Tumblr-Aktivitäten, dorkbot-Vereinigungen und wie diese Bewegungen der letzten Jahre alle heissen, überwinden nationale und gesellschaftliche Grenzen und bieten ihrem Massenpublikum die Rolle von Teilnehmern an.
Dagegen hat sich der Begriff der "Medienkunst" verbraucht. Wichtige Institutionen wie das Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe und das Festival Ars Electronica in Linz haben an Bedeutung verloren oder orientieren sich an neuen künstlerischen Themen wie den Life Sciences. Viele junge Künstlerinnen arbeiten heute mit einer Vielfalt an Kunsttechniken und Medien. Sie machen Performances und installative Ausstellungen, arbeiten mit Zeichnung, Foto und Video, sind Kuratorinnen in temporären Ausstellungsräumen und Herausgeber eigener Künstlerzeitungen. Seit ihrer Kindheit nutzen sie Computer und digitale Kommunikationstechnologien. So tauchen in ihrem Werk zunehmend auch Ideen auf, die sich auf Themen der Informationsgesellschaft mit ihren digitalen Technologien beziehen. Sie sind insofern ‚Medienkünstler’, als sie alle möglichen Techniken, analoge wie digitale, gleichwertig als Mittel zur künstlerischen Kommunikation verstehen.

 

Anmerkungen

1 Britta Schröder, Konkrete Kunst. Mathematisches Kalkül und programmiertes Chaos. Berlin: Reimer Verlag 2008, S. 71
2 Ex Machina. Frühe Computergrafik bis 1979. Ausstellungskatalog Kunsthalle Bremen 2007, S.266
3 Lev Manovich, Die Paradoxien der digitalen Fotografie, in: Fotografie nach der Fotografie, hg. v. Hubertus von Ameluxen u.a., Dresden/Basel 1995, , S.58
4 Vgl. Schwander, Storz: Owning Online Art, 2010 (http://www.ooart.ch)
5 Boris Groys, Kunst und Politik. in: Yael Katz Ben Shalom, Jens Herrmann, Wolfram Höhne u. a. (Hg.): Das Vermögen der Kunst. Köln: Böhlau Verlag 2008, S.56
6 Richard Sennett, Handwerk. Berlin Verlag 2008, S.42
7 Christiane Paul, Digital Art. London: Thames & Hudson 2003, S.175




Text erschienen in:
"Kultur digital. Begriffe, Hintergründe Beispiele". Herausgegeben von Landwehr/Sellier (Migros Kulturprozent) beim Christoph Merian Verlag, Basel 2011