Reinhard Storz


Das Phantom-Lächeln im Hotel Vue des Alpes
Vue des Alpes ist ein fiktives Hotel mit Sitz im weltweiten Netz.1) Doch wer denkt, er könne sich als eiliger Surfer in den Hotelräumen frei bewegen, wird enttäuscht. Nur zwei Bergpfade und die Hotellobby darf er betreten. Allein neun eingeschriebene Hotelgäste haben gleichzeitig das Recht, das Hotel, ihr eigenes Zimmer und die umliegende Alpenlandschaft zu betreten und mit den Augen zu bewohnen. In Vue des Alpes verengt sich der Cyberspace des WWW auf ein Hotelzimmer, das man nach langer Anmeldezeit für fünf Tage betreten darf, das dann aber exklusiv. Was in wirklichen Hotels selbstverständlich ist, das temporäre Recht auf ein eigenes Zimmer, entspricht im virtuellen Hotel dem Recht auf einen eigenen Bildraum, den man für alle fremden Blicke aus dem WWW durch einen Zahlencode versperrt weiss.

Die Berglandschaft von Vue des Alpes kann man durch Klickbewegungen von Bild zu Bild betreten. Hinter dem Bildfenster auf der Webseite scheint sich nahtlos ein Riesenpanorama des Hotelinterieurs und der das Hotel umgebenden Berglandschaft zu erstrecken. Durch den Mausklick auf Pfeile verrücken wir das Bild im Sucher und erhalten dabei das Gefühl, uns mit unseren Augen selbst durch das Hotel und die Landschaft fortzubewegen. Vue des Alpes ist ein egozentrisches System, die Welt dreht sich um uns.

Wir erleben den Ausflug ins Berghotel als interaktiven Roadmovie und verfolgen durch die subjektive Kamera die Regieanweisung der Pfeile. Immer wieder können wir zwischen zwei oder drei Richtungen wählen, was die Bildwelt von Vue des Alpes in unserer Wahrnehmung zum navigierbaren Raum macht. Der Betrachter wird zum Teilnehmer und beeinflusst damit die narrative Struktur dieser Bildwelt. Aus der traditionellen Opposition von linearer Erzählung und innehaltender Beschreibung entsteht eine neue Synthese aus Film und bildender Kunst.2) Wir Klick-Helden sind Subjekte einer navigierbaren Welt, uns stossen Bilder zu – sie sind das Ereignis und Erzeugnis unserer Bewegung. Klickend bewegen wir uns durch die Landschaft und durch die Korridore des Hotels, wir fahren mit der Seilbahn zum Gleissenhorn und geniessen die grossartige Panoramasicht. 3)

In Vue des Alpes wird das piktoriale Zeichen von der Realität allein gelassen, was umso mehr irritiert, als die Hotelbilder auf den ersten Blick an Fotografien erinnern. Tatsächlich betreiben Studer v d Berg in ihrer Arbeit die Verlangsamung des Hochgeschwindigkeitsmediums Fotografie. Denn die Architektur- und Landschaftsfotos in Vue des Alpes sind in Wirklichkeit mit Hilfe eines 3D-Computerprogramms in digitalem Handwerk modellierte Bilder einer fiktiven Wirklichkeit. Studer v d Berg simulieren, um einen Gedanken von Boris Groys aufzunehmen und abzuwandeln, das Instantverfahren der Fotografie mit handwerklichen Mitteln.4) Die Generierung von Bildunikaten am Computer ist das moderne und ebenso Zeit intensive Äquivalent zum vorindustriellen Handwerk. Erst durch ihre Veröffentlichung im Internet werden die Bilder, gewissermassen durch ein Fingerschnippen an der Maus, in industriell vervielfältigte Erzeugnisse transformiert.

In der auf Modellgrösse geschrumpften Berglandschaft von Vue des Alpes zählen zwar andere Bewegungsgesetze als in der ersten Realität, aber unser Körper und die Zeiterfahrung vor dem Monitor sind Teil des Spiels. Ein Ausflug vom Hotelzimmer über Bergpfade zur Seilbahn und von dort bis zur Gleissenhorn-Bergstation dauert acht Minuten, also mindestens sechzehn, wenn man ins Hotelzimmer zurückkehren will. Im Überflug ist das nicht zu haben. Unsere Fernanwesenheit im virtuellen Hotel erleiden wir zudem durchaus körperlich – mit Muskelkater. Denn das Mausgelenk wird uns spätestens nach der Pedalofahrt auf dem Bergsee zu schaffen machen. Um sich mit dem Boot vorwärts zu bewegen, muss man mit dem Mauszeiger ausdauernd und schnell eine Kurbel drehen. Monica Studer und Christoph van den Berg generieren medienempirische Erkenntnis in der Übersäuerung kleiner Muskeln. So ist die Landschaft von Vue des Alpes ein Modell von ungewisser Grösse, ausgebreitet hinter dem Sichtfenster des Monitors, und beharrend auf einer massstabgetreuen Tatsächlichkeit im Körpereinsatz und Zeitgefühl.

Auch in realen Hotels erlebt man Formen der Realitätsüberblendung, darauf bezieht sich die Werkidee von Monica Studer und Christoph van den Berg in vielen Details.
- Wenn wir in Hotels telefonisch ein Zimmer reservieren, wird uns nicht mehr bewusst, dass wir im Telefon das älteste Medium zur Erfahrung einer Telepräsenz benützen. Beim Telefonieren befinden wir uns gleichzeitig an zwei Orten: an dem, in dem der Körper ist, und an dem anderen, in dem die Stimme zu jemand anderem spricht. Hätten wir die mediale Unschuld unserer Kindheit nicht verloren, erlebten wir, wie Stefan Münker schreibt, beim Telefonieren noch den "Schwindel, den immer mal wieder Protagonisten zeitgenössischer Science-Fiction-Filme erfahren, wenn sie sich das erste Mal in die Matrix des Cyberspace einloggen". 5)
- Hotels wirken oft wie Ausstellungsräume für den Zeitstil ihrer Gründung. Architektur, Tapeten, Teppiche und Möbel erzählen von vergangenen Jahrzehnten. Für ihr Hotel haben Studer v d Berg die veritable Arbeit von Innenarchitekten aus den 60er Jahren geleistet. Jedes Gästezimmer ist individuell möbliert. Ihre Liebe zum Detail und das Wiedersehen mit alten Freunden aus der Designgeschichte bringen den Gast zum Lächeln. (Sicher, man lächelt diesseits des Bildschirms, aber lächelt man nicht doch auch ein kleines Phantom-Lächeln im Zimmer dort?)
- Auch real existierende Hotels haben die Eigenart, wie Abzüge aus immer schon verjährten Katalogen zu wirken. Das Personal hat in den Zimmern die Spuren der letzten Gäste weggewischt, als wäre nichts gewesen. Und wir wissen, unser Verhalten und unsere Spuren im Hotel sind denen aller anderen Gäste täuschend ähnlich. Wir führen ein Copy-Paste-Leben in den Copy-Paste-Räumen der realen Welt.
- Fernsehen in Hotelzimmern hat einen besonderen Reiz. Das TV-Gerät gehört zum Hotelzimmer wie das Bett, die Nasszelle, ein Fenster und mindestens ein Bild. Nicht zufällig halten sich die Hotelzimmer von Vue des Alpes bei diesen Ingredienzien strikt an die erste Realität. Denn im Schlaf, im Bild, durchs Fenster und im TV schauen wir fern, zappen uns durch Realitäten. Dagegen steckt in den Nasszellen von Vue des Alpes geballte Ironie: da gibt es eine Dusche ohne Körper, ein Klo ohne Po und einen Spiegel ohne Spiegelbild. Nur Vampire haben kein Spiegelbild und das sind bekanntlich Wesen mit pathologischem Distanzproblem zu warmen Körpern.

Im Hotel Vue des Alpes sind wir Cyber-Touristen oder, um einen alten Begriff von Stanislaw Lem zu verwenden, Fernlinge. Fernlinge sind wir spätestens seit den ersten Fernsehaufnahmen von der Mondoberfläche, und auch die zwei NASA-Roboter Spirit und Opportunity, welche 2004 auf dem Mars landen werden, sollen uns via TV den erneuten Beweis liefern, dass dieser Planet mehr ist, als ein kleines gelbes Pünktchen in der Nacht. 6)
Allmählich bereitet Vue des Alpes dem Hotelgast erkenntnistheoretisches Kopfzerbrechen, dabei verspricht uns die Inhaberfamilie M. und Ch. Studer van den Berg auf der Willkommenseite doch einen geruhsamen Aufenthalt. Während uns Virilios 'Rasender Stillstand' um die Ohren pfeift 7), beantworten wir die Frage, ob die digitale Alpenwelt hinter der Mattscheibe des Monitors uns näher liegt, als der Mars mit seiner Distanz von 500 Millionen Kilometern, mit einem müden 'jein' und hoffen, dieser unverdauliche Code für digitales Denken verursache in unserem Computer keinen Absturz. Schliesslich stehen uns die Bilder der letzten Columbia-Katastrophe noch schmerzhaft vor Augen.

Vue des Alpes ist eine einsame Insel in den Bergen. Mit der Hand an der Maus staken wir durch die schöne Berglandschaft, der das Bildsein doch schon lange zur zweiten Natur geworden ist. Die Einsamkeit und die menschenleere Ruhe im Hotel mag uns mit der Zeit melancholisch stimmen, eine Melancholie, die wir aus den Landschaftsbildern der Romantik kennen, und in neuer Form aus manchen Computer-Spielen.8) In der Literatur und im Kino haben wir dieses Gefühl schon Jahre vor unseren ersten Computererfahrung angetroffen, in Vue des Alpes holt sie uns wieder ein. Vielleicht wird man diese neue Art der Melancholie später einmal als Signum unserer Zeit erkennen.


1 http://www.vuedesalpes.com
2 In The Language of New Media schreibt Lev Manovich: "As noted by Mieke Bal, the standard theoretical premise of narratology is that ‘descriptions interrupt the line of fabula’. For me, this opposition, in which description is defined negatively as absence of narration, has always been problematic. It automatically privileges certain types of narrative (...), while making it difficult to think about other forms in which the actions of characters do not dominate the narrative (...). Games structured around first-person navigation through space further challenge the narration-description opposition.” Manovich, Lev, The Language of New Media, Cambridge 2001, S. 246.
3 Im Hotelzimmer und auf dem Gleissenhorn kann man in so genannter VR-Panoramatechnik die Umgebung in fliessender Rumdumsicht betrachten.
4 Vgl. Bice Curiger, Patrick Frey, Boris Groys: Peter Fischli - David Weiss, Zürich 1995, S. 26-27.
5 Stefan Münker: Vermittelte Stimmen, elektrische Welten. in: Münker, Stefan, Roesler, Alexander (Hg.), Telefonbuch, Frankfurt am Main 2000, S.187-188
6 Für die zwei neuen Marsroboter hat der Spielzeugkonzern Lego zusammen mit der NASA bei Schülern einen Namens-Wettbewerb ausgeschrieben. Siegerin war die neunjährige Sofi Collis aus Arizona. Das macht doch stutzig.
7 Vgl. Paul Virilio: Rasender Stillstand, Frankfurt am Main 1997
8 besonders in der Myst-Trilogie von Cyan Productions. Dort wie hier gibt es für die abwesenden Menschen technische und ästhetische Gründe. Wer möchte schon auf regungslose Mitbewohner treffen, die auf Fragen keine Antwort geben. Wer chatten will wechselt von Vue des Alpes lieber ins Habbo-Hotel, dort gibt es immer freie Zimmer (www.habbohotel.com).
9 etwa im Roman Morels Erfindung (1940) des Argentinischen Autors Adolfo Bioy Casares, oder im Film L'année dernière à Marienbad (1960) von Alain Resnais nach dem Drehbuch von Alain Robbe-Grillet. Dort kommen Menschen zwar vor, aber sie erweisen sich als Hologramme oder sind virtuelle Geschöpfe unserer Erinnerung. Schliesslich haben vor allem Science-Fiction-Filme wie 2001: A Space Odyssey von Stanley Kubrik (1968) die neue melancholische Einsamkeit lange vor unserer Computererfahrung thematisiert.

Text erschienen in:
Monica Studer/Christoph van den Berg, Andreas Baur (Hg.):
BEING A GUEST
Christoph Merian Verlag, Basel, 2003
96 Seiten Klappenbroschur, 80 Abbildungen
Mit Textbeiträgen von Andreas Baur, Reinhard Storz, Ludwig Seyfarth,
Dorothea Strauss, Studer/v d Berg (deutsch/englisch)
ISBN 3-85616-211-9