Giaco Schiesser

Der Traum der Renaissance - Demokratie im digitalen Zeitalter (1997)

Bei all der Betriebsamkeit und Aufgeregtheit um das kommende Eldorado Multimedia / Internet / Cyberspace kann einem leicht die Gelassenheit abhanden kommen, die notwendig ist, um das wuselige Treiben auf seine Probleme, Potenzen und Perspektiven hin zu reflektieren.Vor einem Jahr hat hierzulande jeder und jede - ausser einer kleinen Insider-Gemeinde - Begriffe wie Internet, WWW, Gopher oder Mosaic bestenfall für eine Telefongesellschaft, eine Unterabteilung des WWF, eine Comicfigur oder für das neueste Ravensburger Kinder-Puzzle gehalten. Nach der Multimedia-Medienoffensive, mit der seit dem vergangenen Sommer die Schweiz überrollt wird, scheinen wir plötzlich in einer anderen Welt zu leben. Zählt man die Zeit zusammen, die die elektronisch versandten Daten benötigten, die allein 1994 durch die Netze der Welt gejagt wurden, kommt man auf beachtliche 76'000 Jahre. War uns diese "Ekstase der Kommunikation" (Jean Baudrillard) im letzten Winter noch schnuppe, so fragen wir uns diesen Winter begeistert, bestürzt oder fassungslos, ob denn nicht ab sofort eine individuelle Internet-Adresse wichtiger ist als eine Wohnadresse?

Wie die multimediale Realität in etwa fünf Jahren konkret aussehen könnte, beschreibt einer der führenden Multimedia-Entwickler, Rudolf Brauner, Vorsitzender der Geschäftsführung der Sony Deutschland GMbH in seinem Buch "Die multimediale Gesellschaft" (1994) so:

      "Stellen wir uns ein System vor (...) und nennen wir es ,Medienstation'. Kernstück dieser Stationen wären ein HDTV-Monitor (...), eine videofähige Rechnereinheit auf Workstation-Basis, ein Fingerabdruckidentifikationsgerät, ein Magnetkartenspender und natürlich der (...) ,Real-time-Translator'. Gesteuert wird das System über Touch Screen oder aber ,voice driven'. Die Station wäre damit kommunikationsfähig. Stellen wir uns weiter vor, dass sie mit einer Kamera ausgestattet wäre und damit auch als Bildtelefon verwendet werden könnte. Als weitere Peripherie hat sie eine Faxausgabe, und natürlich kann der Benutzer mit einem Handsprechgerät mobil telefonieren.
Die unterschiedlichsten Ebenen des menschlichen Wissens - seien es Bilder, Töne oder Schriften - könnten in diesem Szenario auf der Basis der Digitalisierung zueinander in Verbindung gebracht werden. (...) In dieser digitalen Welt kann jederzeit alles überall erscheinen. (...) Die herkömmlichen Methoden der Orientierung verlieren ihre Geltungskraft. Massgeschneiderte Navigationsmodelle müssen helfen, sich in dieser neuen alten Welt zurechtzufinden."

Citoyenneté in der CyberModerne des High-Tech-Kapitalismus

Man muss weder die hymnischen Erlösungsphantasien seiner Anhänger noch die apokalyptischen Visionen seiner Kritker teilen um zu sehen, dass mit dem digitalen Zeitalter, welches das Zeitalter der fordistischen Massenproduktion und -konsumtion ablöst, eine Reihe neuer Fragen und Probleme auftaucht, die das gesamte gesellschaftliche Gefüge von Ökonomie, Ökologie, Politik und Kultur betreffen. Da sich apokalyptische Kulturkritik an den und technoide Heilserwartungen an die jeweils neuesten Medien spätestestens seit der Erfindung der Fotografie gleichermassen blamiert haben, muss es heute zunächst darum gehen, die Möglichkeiten und die Machtverhältnissen auszuloten, mit denen eine demokratisch orientierte Internet-Perspektive zu rechnen hat.

In einer Zeit, in der die Realität, frei nach Brecht, dabei ist, in die Multimediale oder Digitale zu rutschen, stellt die Demokratie, einer der Grundpfeiler des modernen Europas seit 1789, einen eigentlichen Kernbereiche dar. Über ihn wir zur Zeit manches geraunt, vieles prophezeit, aber nur weniges ernsthaft diskutiert und analysiert. Als Kulturwissenschaftler interessieren mich die wirkungsmächtigen Diskurse und ihre blinden Flecken, in denen das Verhältnis von Demokratie und Multimedia gegenwärtig verhandelt werden. Aus der Besichtigung dieser Diskurse will ich dann ein paar eigene, weiterführende Gedanken gewinnen.

Die Positionen zu den Auswirkungen der digitalen Revolution auf die Demokratie bewegen sich zur Hauptsache innerhalb von zwei konträren Diskursmustern. Das eine breitet am poinitiertesten der französische Politikwissenschaftler und langjährige Leiter des Strategiestabs des französischen Aussenministeriums, Jean-Marie Guéhenno, in seinem neuesten Buch aus. Es trägt den unmissverständlichen Titel "Das Ende der Demokratie" (1993, dt. 1994). Für Guéhenno ist Demokratie an den Nationalstaat gebunden, und dieser wird heute unterminiert durch Modelle sozialer Organisationen, die jenseits des Politischen funktionieren. Guéhenno nennt sie "Netz" und "Reich". Das Netz speichert Informationen, es bildet Kanäle, auf denen alles transportiert wird, was von Wert ist - Güter, Geld, Informationen. Es erstreckt sich über den ganzen Globus. Unterläuft das Netz die Ebene des Politischen, so wird es durch das kommende Reich übertrumpft. Das Reich bezeichnet die Struktur, einer Einigung ohne Zentrum, kennt keinen Souverän, nur noch Verwalter, kennt keine Prinzipien, sondern nur noch Verfahren. Guéhenno sieht den Staatsbürger verschwinden, ein Jenseits der Einzelinteressen kann heute nicht mehr gedacht werden. Was wir erleben, ist eine Verflüchtigung der Gesellschaft: Die Gesellschaft existiert nur noch als ihr eigener Mythos. Das Ende der Demokratie ist fällig, weil ihr die Subjekte ebenso wie die Gegenstände abhanden kommen. Was stattdessen anbricht, ist ein "imperiales Zeitalter" , in der der einzelne seine Tätigkeiten innerhalb eines Rahmens entfalten kann, in dem alle Verfahren klaren und vorhersehbaren Regeln gehorchen. Die imperiale Zukunft, die "das Ende der Aufklärung" markiert, wird die einer schwachen Struktur sein, in der die "geistige Freiheit", die "Weisheit in der stoischen Bedeutung des Wortes" - unter Führung einer neuen geistigen Elite - neu zu entdecken wäre. Man sieht hier, was auch bei vielen anderen Euphorikern des digitalen Zeitalters zu beobachten ist: einen analytischen Sprung vorwärts zurück in eine gesellschaftliche Vor-Vergangenheit. Das Morgen wird als das Gestern gedacht.

In der Betonung des einzelnen Individuums und der Entstehung eines "vollkommen neuen, weltweiten Sozialgefüges" treffen sich die Vertreter der ansonsten konträren Position mit Guéhenno. Für sie mögen hier Nicholas Negroponte stehen, der Begründer und Leiter des digitalen Think Tank am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Bosten und der Vordenker des digitalen Zeitalters, und der bereits erwähnte Josef Brauner. Auch Negropontes soeben erschienenes, äusserst lesenswertes Buch trägt einen unmissverständlichen Titel: "Total digital" (1995, dt. 1995). Zwar kommt in dessen umfangreichem Stichwortverzeichnis das Wort "Demokratie" nicht vor. Aber im angebrochenen "Zeitalter des Optimismus", wie der Epilog übertitelt ist, sieht Negroponte eine "junge Bürgerschaft" aus der digitalen Welt aufsteigen, die "die Menschen zu grösserer Weltharmonie" führen wird.

Für den Sony-Deutschland-Chef Josef Brauner, der der Demokratie ein eigenes Kapitel widmet, ist Multimedia der Rettungsanker der in allen westlichen Ländern krisenhaften Demokratien schlechthin. Die abnehmende Wahl- und Stimmbeteiligung führt er auf eine wachsende "Bequemlichkeitsbarriere"zurück, politische Partizipation, insbesondere "plebiszitäre Elemente" erhielten dank Multimedia eine neue Chance. So sitzt in einem seiner Szenarios "bei der nächsten Bundestagswahl Familie Fischer am Frühstückstisch und debattiert beim Kaffee noch über die letzten politischen Ereignisse (...). Marion, die Tochter, will gleich zu einer grosssen Motorradtour aufbrechen. Vorher geht sie rasch zur Medienstation, sagt ,Wahl' und wird aufgefordert, ihren Zeigfinger in das Identifikationsgerät zu legen. Mittels Laser wird ihre Fingerkuppe abgetastet - Marion ist eindeutig identifiziert. Dann wird sie aufgefordert, ihre Stimme abzugeben, fertig."

Was auffällt: Eine wirkliche Debatte um die demokratischen Herausforderungen im digitalen Zeitalter findet in beiden Diskursen nicht statt. Während Guéhenno mit imperialer Geste ein weiteres Mal eine Grosse Erzählung anstimmt, in der ein weiteres Mal das Ende der letzten grossen Erzählung (diesmal derjenigen des Nationalstaates) verkündet wird, bleiben die kleinen Erzählungen zur Demokratie in den Visionen führender Macherinnen - den eigentlichen Real-Philosophen des digitalen Zeitalters - seltsam blass, ja naiv. Die Frage, was ist der Kitt, der die zukünftige Gesellschaft zusammenhält, wenn, wofür vieles spricht, das Ziel jedes Einzelnen er/sie selbst ist (nach Negroponte leben wir "im Postinformationszeitalter", in dem wir es zunehmend " mit einem Einpersonenpublikum zu tun haben"), ist der blinde Fleck im Diskurs beider Positionen.

Vorschnelle Antworten, ungestellte Fragen

Statt vorschnelle und endgültige Antworten zu liefern, scheint es in der gegenwärtigen Umbruchsphase sinnvoller, erst einmal eine Auslegeordnung vorzunehmen, Fragen zu stellen, die in deutschsprachigen Diskussion bisher noch kaum gestellt werden und von deren Beantwortung wir noch weit entfernt sind:
  

  • Ist unsere Gesellschaft als eine Gesellschaft zunehmender Ausdifferenzierung und Individualisierung angemessen beschrieben? Lässt nicht die Tendenzen der Globalisierung auf allen Ebenen gleichzeitig soziale Zusammenhänge und soziale Gruppen neuen Typs entstehen (für die Frankreichs Minitel oder das weltweite Internet mit seinen tausenden von virtuellen Communities als Beispiele stehen mögen)? Der bekannte Multimedia-Forscher und Berater des US Congress Office of Technology Assessment, Howard Rheingold zum Beispiel, sieht in den virtuellen Communities eine Antwort auf den "Hunger nach Gemeinschaft", der nach dem Auseinanderbröckeln traditioneller Gemeinschaften entstanden ist, und die "Zukunft der Demokratie" schlechthin.
  • Demokratie ist in Europa historisch an die Herausbildung von Nationalstaaten gebunden. Dieser homogene nationalstaatliche Zusammenhang ist von zwei Seiten unter Druck geraten: durch die Zerstörung traditioneller Klassen und Schichten und die Aggregierung neuer, vielleicht flüchtigerer, Gruppenzugehörigkeiten. Andererseits nimmt mit der Globalisierung des Kapitals die Regulations- und Interventionskompetenz der Nationalstaaten ab. Soweit ist Guéhenno zuzustimmen. Die Folgen dieses Drucks zeigen sich drastisch an den zentralen politischen Einrichtungen: Während sich in den rapiden Veränderungsprozessen des 19. und 20. Jahrhunderts alle ökonomischen, politischen und kulturellen Bereiche und Einrichtungen und auch die politisch zu lösenden gesellschaftlichen Problemlagen fundamental verändert haben, gingen die zentralen politischen Institutionen aus diesem Wandel praktisch unverändert hervor. Geschaffen für Problemlösungen des 18. und 19. Jahrhunderts ist ihre Wirkungsmacht heute weitgehend disfunktional oder ausgehöhlt. Die gesuchte neue Form der Demokratie für das digitale Zeitalter allerdings ist gegen den Diskurs, den Guéhenno vertritt, deswegen bedeutsam, weil die multimediale Wirklichkeit gesellschaftliche Verhältnisse vermittelt und ständig neu schafft. Die Multimediale (der Cyber-space) ist, und das ist demokratietheoretisch zentral, ein vielstimmiges, diskursives Forum, auf dem gesellschaftliche Beziehungen und Identitäten ununterbrochen verhandelt, neu formuliert und umkämpft werden. Die Alternative zu einer erneuerten Demokratie für das digitale Zeitalter wäre nicht ein Leben in stoischer Weisheit, von dem Guéhenno träumt, sondern die Inkaufnahme sich unhinterfragt perpetuiiernder Herrrschaftsstrukturen. Wie ist stattdessen, so stellt sich heute die Frage, der Zusammenhang von transformierter Demokratie, Hegemonie und Macht im High-Tech-Kapitalismus der "CyberModerne" (Fassler/Halbach) angemessen zu beschreiben und in ein politisches Projekt umzusetzen?
  • Wenn die Macht nicht mehr von einem oder ein paar wenigen Orten (Regierungen, Unternehmen) ausgeht, sondern von einer unüberschaubaren Anzahl von Orten; wenn es, mit anderen Worten, keinen Hegemon, sondern nur noch eine strukturelle Hegemonie gibt: über welche Kompetenzen müssen die einzelnen Akteure verfügen, um in diesem Raum handeln zu können und nicht nur gehandelt zu werden? Und woher beziehen sie diese Kompetenz? Howard Rheingold tippt das Problem von Macht und Herrschaft zumindest an, wenn er fragt, ob die "elektronische Demokratie" eine "angemessene Beschreibung für die politische Vollmacht, die aus dem Bildschirm eines Computers erwächst" sein wird, oder ob die virtuellen Räume zu einem "ausgezeichneten Stück Des-Infotainment" werden, zu einem weiteren Mittel, um "Emotionen zu manipulieren und öffentliche Meinung zu schaffen, die im Dienste der Macht stehen". Das bekannte Futurlogen-Ehepaar Alvin und Heidi Toffler sieht gar "ganze neue Formen der High-Tech-Propaganda" auf uns zu kommen, die zum Beispiel "der Bevölkerung einen Putsch vorgaukeln lässt, der in Wirklichkeit nur im Speicher eines Computers stattfindet".
  • Wer verfügt über welche Informationskanäle und - da nach wie vor gilt, dass Wissen (und nicht Information alleine) Macht ist: wie kann erreicht werden, dass die KonsumentInnen von Multimedia in der Lage sein werden, Information in Wissen zu verwandeln, und wer wären diese Instanzen, bzw. wie müssten die Strukturen beschaffen sein, die das sicherstellen könnten?
  • Was bedeutet Demokratie, wenn die weltumspannenden Netze, die heute geschaffen werden, höchstens einen Drittel der Menschen erreichen, weil zwei von drei Personen auf unserem Planeten noch nie ein Telefongespräch geführt haben,und sich das so schnell auch nicht ändern wird?
  • Worin wird die sogenannte Freizeit bestehen und wozu wird sie genutzt, wenn die wöchentliche Lohnarbeitszeit weiter sinkt, auf die 25-Stunden-Woche, wie sie André Gorz seit langem für möglich hält und der renommierte KI-Forscher Klaus Haefner auf Anfang nächstes Jahrhundert für die Industrienationen prognostiziert? Wird der homo ludens globi tatsächlich den homo faber ablösen?
  • Welches sind, so lassen sich diese Fragen vielleicht zusammenfassen, die Eckpunkte einer digitalen Kultur im Zeitalter der "planetarischen Gemeinschaft" (Richard Rorty) im High-Tech-Kapitalismus? Und, da Öffentlichkeiten für jede Demokratiform eine pièce de résistence darstellen: Wie kann dem neuesten Strukturwandel der Öffentlichkeiten Rechnung getragen werden, wie kann die Konstruktion von neuen Öffentlichkeiten, die durch eine "prinzipielle Unabgeschlossenheit des Publikums" (Habermas) charakterisiert sind, als intersubjektiver und medial interaktiver sozialer Raum erreicht werden, wenn die sozialen Grossgruppen, auf sich die bisherigen politischen Debatten und demokratischen Repräsentanzen bezogen haben, nicht mehr existieren und die individuelle Nutzung des Computers und die Abgeschlossenheit eine Vielzahl einzelner, geradezu intimer Interaktionsräume vorherrscht? "Öffentlichkeit und Intimität liegen extrem weit auseinander, man kann sie als die Beschreibung von zwei Gegenpolen bezeichnen. Die Einheit von Öffentlichkeit und Intimität wäre eine starke Organisationsform", vermuteten Alexander Kluge und Oskar Negt bereits 1981.

    Antworten aus den USA oder: Good Old Europe

    Antworten auf einige dieser Fragen zeichnen sich in der Debatte ab, die in den USA um das Internet geführt wird, die aber in Europa bisher kaum zur Kenntnis genommen wird.(Eine verdienstvolle Ausnahme bilden verschiedene Beiträge im Sammelband von Manfred Fassler und Wulf R. Halbach) Der Einsatz von einem Grossteil von Pornographie-GegnerInnen für die prinzipielle Offenheit des Netzes auch im Falle von harter Pornographie zum Beispiel - in Europa fast nur mit moralischer Entrüstung zur Kenntnis genommen -, lässt sich doppelt lesen: zum einen als demokratische Abwehr jeglicher Zensur, jeglicher hierarchischen Instanz. In diesem Sinne ist das Chaos des Internet Voraussetzung für einen egalitären Zugang auf Seiten der BetreiberInnen wie der NutzerInnen. Zum anderen zeigt gerade das Beispiel der Pornographie, aber auch das Scheitern der verschiedenen Bestrebungen von Regierungen im ehemaligen Jugoslawien, die Verbreitung von Gegeninformationen durch das wechseslseitige Kappen nationaler Telefonleitungen zu unterbinden, die immensen Öffentlichkeitspotenzen des Internet: Alles, was über das Internet verfügbar gemacht wird, findet bereits heute real, und nicht nur potentiell (zur Zeit gegen 45 Millionen), eine millionenfache und ,weltweite' Öffentlichkeit. Was die Filmwissenschaftlerin Linda Williams in ihrer grossanglegten historischen Studie über Hard-Core-Filme gezeigt hat, gilt auch für das Internet: Das Öffentlichwerden des Privaten und des Heimlichen, "from obscene on scene" (Williams), bedeutet ein Stück Demokratisierung: was öffentlich gezeigt wird, wird öffentlich diskutierbar, verhandelbar. Selbstverständlich sind die Netze kein Raum der herrschaftsfreien Kommunikation, sondern, wie die übrige Gesellschaft, durchzogen von Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Die Inhalte, Widersprüche und Grenzen des wirklichen Lebens sind auch die Inhalte, Widersprüche und Grenzen der virtuellen Realität. Hält man zudem die alte, gleichermassen liberale wie linke Vorstellung einer transparenten Gesellschaft, die heute dank der neuen Kommunikationstechnologien bei vielen Politikern und Medientheoretikern ein Revival erlebt (z. B. bei Al Gore in seiner Rede vor Experten der Fernemeldeunion 1994 in Bueno Aires), für naiv, dann wird die öffentliche - plurale und unabschliessbare - Verhandelbarkeit und Diskussion aller Kernbereiche unserer Gesellschaft zentral.

    Ihre eigentliche Brisanz erhalten diese Debatten vor dem Hintergrund des von der Clinton/Gore-Regierung eingeschlagenen Weges zu einer National Information Infrastructure (NII). Ein Weg, der sich vom bisherigen europäischen Weg grundlegend unterscheidet. Die Gore/Clinton-Initiative zielt darauf, demokratische Werte wie Gleicheit, Partizipation, Freiheit und Selbstbestimmung unter den extremen Wettbewerbsbedingungen im Bereich der neuen Informationstechnologien zu bewahren und und zu erweitern, und die neuen Medientechnologien einem möglichst grossen Teil der us-amerikanischen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Diese bei uns unter dem irreführenden Schlagwort "Datenautobahn" bekanntgewordene Informations-Infrastruktur sollen vor allem private Unternehmen bauen - Computerindustrien, Telefongesellschaften und Kabel-TV-Betreiber. "Der Staat", so die Medienwissenschaftler Ulrich Schmid und Herbert Kubicek, "übernimmt die ,symbolic leadership' - er promotet, moderiert, initiiert, sorgt für die Abstimmung von Kooperation und Konkurrenz, die rechtliche Regelung und eben auch dafür, dasss die öffentlichen und sozialen Anliegen nicht im Schatten bleiben."

    Dass dieser labile Interessenspakt zwischen Staat, Privatwirtschaft und Öffentlichkeit bisher funktioniert, liegt daran, dass es für die Informations- und Telekommunikationsindustrie - jenseits der auch von ihnen stets emphatisch betonten gesellschaftspolitischen Zielen wie Gleichheit und Demokratie - handfeste ökonomische Interessen für die Förderung öffentlicher Anwendungen von Multimedia etwa in Bibliotheken und Schulen gibt. So hat Pacific Bell wie alle grossen us-amerikanischen Telefongesellschaften erkannt, dass Multimedia - anders als das Fernsehen - aktive NutzerInnen verlangt, die die Computer als Workstationen für eine Vielzahl von Aktivitäten auch einsetzen. Und daran hapert es bisher selbst in den USA. Eine Folge ist, dass Pacific Bell sich dazu bereit erklärt hat, alle Schulen Kaliforniens kostenlos ans Netz anzuschliessen. Dass daraus nicht zwangsgsläufig ein demokratisches Deckmäntelchen für die kommerziellen Aktivitäten elektronischer Warenhäuser werden muss, zeigt sich bisher daran, dass die alternativen ComputernetzwerkbetreiberInnen in den Planungsgremien zur NII ebenso vertreten sind wie staatliche Stellen und private Unternehmen. Selbst wenn - wovon auszugehen ist - die us-amerikanische Initative bei weitem nicht alles halten wird, was sie an Bescherung für das Gemeinwesen verspricht, wird sie doch dazu anregen, das Bewusstsein der Entwickler, Anbieter und Nutzer interaktiver Medien für die künftigen medienpolitischen Probleme, sowie die anstehenden Organisations- und Institutionalisierungsfragen neuer Medien zu schärfen.

    Vergleicht man demgegenüber die laufenden PTT-Reformen in sämtlichen europäischen Ländern, dann fällt auf, dass sie politisch sehr viel engstirniger geführt werden. Telekommunikationspolitik in Europa ist wirtschaftspolitisch technikfixiert, medienpolitisch unterreflektiert und gesellschaftspolitisch kein Thema.


    Kein Ende

    Im Gebäude der Deutschen Bank in München steht der Spruch: "Aus Ideen werden Märkte". "Eine der brutalsten Formulierungen, die ich in der Richtung gelesen habe", kommentierte ihn der dem Brutalen ansonsten wenig abholde Schriftsteller Heiner Müller. "Neue Märkte durch Multimedia" heisst die aktuelle Variante dieses Slogans.

          "Es geht um etwas sehr Simples:
    Es geht um die Gigabites, die den Consumer erreichen sollen und um die Gigadollars, die dafür verdient werden können."

    Was Helmut Fluhrer aus dem Münchener Burda-Haus auf dem im November 1994 vom Bonner Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft Forschung und Technologie veranstalteten und hochkarätig besetzten Kongress "Märkte durch Multimedia" gelassen und in erfrischender Offenheit ausgeprochen hat, gibt die Mainstream-Stimmung des Multimedia-Business in Europa heute trefflich wieder. Auf dem Multimedia-Markt, dem demnächst weltweit grössten Wirtschaftszweig, herrschen Raubrittertum, Manchester- und "Turbokapitalismus" (Edward Luttwak) gleichzeitig, also schlechte Zeiten für die Demokratie.

    Die europäische Kultur "ist ihrer Idee und Wirklichkeit nach eine forschende, argumentierende, selbstreflexive poietische Kultur (von griechisch poiesis, das herstellende Handeln)". Die europäische Welt der Moderne, so der Philosoph Jürgen Mittelstrass weiter,
          "ist eine Welt, in der sich der Mensch als Entdecker, als Deuter, als Macher bewegt. Es ist eine Kolumbus-Welt, in die der Mensch aufgebrochen ist, als der griechische Gedanke der Rationalität alle anderen Orientierungen in den Schatten schob, eine Leibniz-Welt, die sich der Mensch über seine Deutungen aneignet, und eine Leonardo-Welt, die er selbst gemacht hat, um fortan als Entdecker und Deuter in seiner eigenen Welt zu leben." (ebd., S. 18)
    Allseitige Entfaltung der individuellen Möglichkeiten jedes einzelnen ist, demokratietheoritisch gesehen, das aufbewahrenswerte Moment dieser Leonardo-Welt. In der heutigen Leonardo-Welt, in der "der technologische Wandel der eigentliche Motor" ist, ist der "Ausgang des Menschen aus seiner Natürlichkeit unwiederruflich", der Ausstieg aus der Leonardo-Welt keine Alternative. Der Zauberlehrling Moderne wird sich auf Dauer im Dilemma von Fortschritt und dessen schwer kalkulierbaren Folgen einrichten müssen. "Allerdings", so Mittelstrass, "steht der Nachweis, dass der Mensch die Probe, auf die er sich mit der Leonardo-Welt selbst gestellt hat, auch wirklich besteht, noch aus."

    Das Zusammentreffen von vier Momenten im High-Tech-Kapitalismus der CyberModerne biet Anlass zu einer gewissen Hoffnung, dass diese Probe - wenn auch weiterhin nur provisorisch - bestanden werden könnte:
  • Erstens und vor allem: Das Fehlen der hemmungslosen Begeisterung auf Seiten der Cybberspace-NutzerInnen und ihre sich abzeichnende Haltung gegenüber der CyberModerne - eine Mischung aus rascher Auffassungsgabe, Nüchternheit, Skepsis und Ironie.
  • Das strukturelle Chaos und die strukturelle Unkontrollierbarkeit des Cyberspace, der aus verschiedenen Netzen besteht: das Internet ist ein Bastard des den Militärs entglittenen ARPANET, den CIA, FBI und die National Security Agency (NSA) seither ebenso verzweifelt wie vergeblich wieder unter Kontrolle zu kriegen versuchen.
  • Das im Vergleich zur Entstehungszeit von Film, Radio und Fernsehen von Anfang an vorhandene quantitave und qualitative Angebot an alternativen, also an nicht-gouvernamentalen und non-profit-, AnbieterInnen und ihren Teilnetzwerken im Internet. Und vom Internet "als Modell und als Metapher wird der Anstoss zur Veränderung" des digitalen Zeitalters ausgehen - davon ist auch Nicholas Negroponte, der Leiter des Media Lab am MIT überzeugt. Die im Vergleich zu allen früheren neuen Medien neuartige Ausgangslage bei Mulitmedia zeigt sich vielleicht am besten daran, dass etwa die unabhängige EFF (Electronic Frontier Foundation), immer noch, so der französische Wissenschaftsjournalist Yves Eudes, "eine Länge Vorsprung zu den Forschungslaboratorien" der kleinen und grossen Multimediaunternehmen hält und "zehn Längen Vorsprung vor denen, die beim FBI als Experten gelten".
  • Und viertens: die jahrelangen Erfahrungen von Cyber-PionierInnen wie Jaron Lanier: "Die stärkste Erfahrung einer virtuellen Realität hat man, wenn man aus ihr herausgeht. Denn nach dem Aufenthalt in der Realität, die man selbst gemacht hat, mit allen Beschränkungen und der darin liegenden relativen Geheimnislosigkeit, erscheint einem die Natur wie Aphrodite persönlich. Man erblickt in ihr eine Schönheit von Intensität, wie man sie vorher schlicht niemals wahrnehmen konnte (...). Das ist eines der grössten Geschenke, die virtuelle Realitäten uns machen, ein neu gewonnener Sinn für die physische Realität."