Claudia Spinelli

Aufrecht in die Geschichte eingehen

Jean-Christophe Ammann

Seit zehn Jahren besteht es bereits, das Frankfurter Museum für Moderne Kunst. Grund genug, dessen Leiter, Jean-Christophe Ammann, zu besuchen. Er wird das Haus Ende Jahr verlassen und den Stab an seinen Nachfolger Udo Kittelmann übergeben.

Zu fünft beugen sich die Wachmänner über einen alten Mann, der sich in der Fussgängerpassage hingelegt hat, weil er müde ist. Zu müde, um sich bis zur nächsten Kneipe zu schleppen, zu müde, um sich eine Bleibe zu suchen für die Nacht. "He, Sie da, hier können Sie nicht liegen bleiben. Stehen Sie auf!", bellt es in fünffacher Verstärkung auf ihn ein. Frankfurt ist ein wenig wie Zürich, nur härter. Ein Wirtschaftszentrum ohne Wärme, aber auch ohne jenes Urvertrauen in Wohlstand, Rechtschaffenheit und Fleiss, das man an der Limmat während Jahrzehnten nie ernsthaft zu hinterfragen brauchte. Frankfurt ist eine gebrochene Stadt. Die Zeit des Nationalsozialismus hat hier eine besonders krasse Leerstelle hinterlassen: mit der Ermordung und Vertreibung der Frankfurter Juden hatte sich die Stadt um ihre eigene, während Jahrhunderten gewachsene Identität gebracht.

Eine Sammlung für eine gebrochene Stadt
Während der wirtschaftliche Verlust in den Nachkriegsjahren bald wettgemacht werden konnte, krankte das kulturelle Leben jahrzehntelang. Dies wurde erkannt und führte in den achtziger Jahre unter anderem zur Projektierung des Museums für Moderne Kunst. Mit Jean-Christophe Ammann hatte Hilmar Hoffmann, der damalige Kulturdezernent, auch eine Persönlichkeit für die kulturelle Aufbauarbeit gefunden, die nicht nur über das nötige Charisma, sondern auch über ein unglaubliches Engagement verfügte. Ein Engagement, das so gross war, dass er auch dann nicht aufgab, als ihm kurz nach Amtsantritt die von Finanzskandalen geschüttelte Stadt einen wesentlichen Teil der versprochenen Gelder strich und sich der frischgebackende Direktor seiner Aufgabe mit praktisch leeren Händen gegenübersah.
"Meine Aufgabe war es, eine Sammlung für diese Stadt, für die Menschen hier aufzubauen und damit einen Beitrag zu einer neuen Identität zu leisten", kommentiert der 62-jährige die Vision, der er während 13 Jahren all seine Energien widmete. "Es ging und geht mir darum, an etwas zu arbeiten, das man unter die Menschen bringen kann – und das kann man nicht, wenn man bloss zwei oder drei Jahre in einer Stadt ist, weil man die Menschen und den Ort zuerst richtig kennenlernen muss." Jean-Christophe Ammann erzählt von seinen Bemühungen, Menschen für seine Anliegen zu gewinnen. Menschen hätten ihn schon immer interessiert, er sei neugierig auf Menschen. Man nimmt dem Mann, der statt in einem dickgepolsterten Direktorensessel in einem einfachen Holzstuhl sitzt, jedes Wort ab. "Es ging mir nie darum, den Leuten einfach das Geld aus der Taschen zu ziehen." Glücklicherweise hätten aber einige Menschen die Bedeutung seines Vorhabens erkannt und ihn grosszügig unterstützt. Für diese Hilfe sei er sehr dankbar.
Jean-Christophe Ammann ist ganz und gar seiner Aufgabe verpflichtet. Er geht in seiner Funktion auf. Ein eigentliches Privatleben hat er nicht, höchstens ein paar Marotten – der Blick fällt auf das Werbeplakat einer bekannten Unterwäschefirma mit nicht ganz jugendfreiem Motiv. Es hängt an einer Wand des mit Bücherstapeln, Kartonschachteln und vielerlei Kleinigkeiten vollgestellten Büros. In einem Einmachglas ein faustgrosser Affe mit erigiertem Penis, daneben eine vergoldete Frauengestalt klassischer Prägung, ein persönliches Geschenk von Gina Lolobrigida. "Und das", Amman weist lachend auf ein zerknautschtes Ding, "das ist &Mac226;Hans Huckebein, der Unglücksrabe‘, ein Geschenk meiner Mutter, und seit 1968, als ich Direktor des Kunstmuseums Luzern wurde, mein ständiger Begleiter." Unter einem unglücklichen Stern scheint Ammanns Wirken nicht eben gestanden zu haben, weder in der Kunsthalle Basel, noch in Frankfurt. Tiefpunkte gab es sicherlich, so zum Beispiel als Gerhard Richters monumentales Werk "18. Oktober 1977", das als Leihgabe während Jahren im MMK hing, vom Künstler an das New Yorker Museum of Modern Art verkauft wurde. Der Bilderzyklus, eine malerische Umsetzung von RAF Fahndungsfotos, ein Schlüsselwerk der deutschen Nachkriegsgeschichte und ein wesentlicher Eckpfeiler im Sammlungskonzept Ammanns, war damit unwiederbringlich verloren. Andere Schlüsselwerke, so etwa das eindrückliche Frühwerk von On Kawara traten jedoch an dessen Stelle. Aus einer persönlich-existentiellen Perspektive verdeutlicht auch der Japaner den historischen Bruch, der das 20. Jahrhundert durchzieht, und dies in einer Eindringlichkeit, welche die kulturellen Differenzen verblassen lässt. On Kawaras Datumsbilder, die im Anschluss an das beklemmende Frühwerk entstehen, bilden denn auch eines der sinnigen Verbindungsglieder einer Sammlung, die aus zwei Teilen, zwei "Brückenköpfen" besteht, der Sammlung Ströher, – Werke der 60er Jahre, vornehmlich Pop-Art – und einem aktuellen, in der Gegenwart ansetzenden Teil.

Subjektivität, Nachhaltigkeit und Relevanz
Mit seinen Szenenwechseln hat Amman eine überzeugende Form für seine generationenübergreifende Ausstellungs- und Sammlungstätigkeit gefunden. Etwa zweimal jährlich wird das Haus neu bespielt, Permanentes wird durch interessante Konfrontationen unter eine neue Perspektive gestellt, während manche Werke für eine Weile ins Depot wandern, um anderen Positionen, Neuerwerbungen, aber auch Leihgaben Platz zu machen. Die eher affektierte Museumsarchitektur des Wieners Hans Hollein, am Anfang beargwöhnt, hat sich im Rückblick als Glücksfall erwiesen. Die ineinander verschachtelten Raumfluchten, mit Durch- und Querblicken, bespielte Ammann mit organisch anmutenden Inszenierungen. Das intime, persönliche Verhältnis, das der Kurator mit den Künstlern und ihren Werken pflegt, wurde in jeder Setzung spürbar und wog auch vermeintliche Schwächen, oder zumindest diskutable Positionen der künstlerischen Auswahl um ein Mehrfaches auf. Die Szenenwechsel, bis Ende Jahr sind es zwanzig an der Zahl, könnte man mit einem Gastmal vergleichen, bei dem jedem einzelnen Individuum nicht nur eine ganz besondere Wertschätzung entgegengebracht, sondern auch viel Wert auf befruchtende Begegnungen gelegt wird.
Von kurzfristigen Moden des Kunstmarktes unbeeindruckt, hat Jean-Christophe Ammann seine Sammlung aus einer bei aller Informiertheit äusserst subjektiven Perspektive aufgebaut. Anders als in anderen Häusern, wo man die immer gleichen "most famous artists" und ihre gehypten Nachfolger antrifft, stehen im MMK etablierte Künstler wie Jeff Wall, Robert Gober, Bill Viola, Katharina Fritsch oder Günther Förg Seite an Seite mit noch wenig bekannten, eigenwilligen Positionen. Gerade in Bezug auf die jüngere Künstlergeneration hat Ammann eine auffällige Vorliebe für figurative Malerei entwickelt. Luc Tuymans, Cecila Edefalk oder Anton Henning zum Beispiel reflektieren malend ihre eigene zeittypische Wirklichkeitserfahrung. "Es geht darum zu verhindern, dass die grenzüberschreitende Medialisierung uns die eigenen Bilder raubt." Jean-Christophe Amman ist von einem bedingungslosen Glauben an das Subjekt, an den Kosmos des Persönlichen durchdrungen. An dem hält er fest, und darin sieht er auch eine Möglichkeit, sich künstlerisch in einer von Orientierungslosigkeit geprägten Welt zu behaupten. "Auch das Niemandsland kann ein spezifischer kultureller Raum sein, ein Resonanzraum der Sehnsüchte, der Zerrissenheit, des Zuhauseseins in der Heimatlosigkeit."
Jean-Christophe Amman ist ein grandioser Vermittler und ein umsichtiger Museumsmann, der sich bis heute seine Neugierde und seinen Glauben an die Kunst bewahrt hat. Darin scheint auch die Garantie für die Bedeutung einer Sammlungstätigkeit zu liegen, die, ohne das Risiko zu scheuen, Nachhaltigkeit und Relevanz anstrebt. In Bezug auf seinen Anspruch bestehen bei Jean-Christophe Ammann keinerlei Zweifel: "Nachhaltigkeit ist etwas, das du immer im Hinterkopf hast, willst du einmal in die Geschichte eingehen - aufrecht oder mit abgeschlagenem Kopf."

Claudia Spinelli

Der letzte von Jean-Christophe Ammann inszenierte Szenenwechsel XX im Museum für Moderne Kunst, Frankfurt dauert bis zum 3. 3. 2002.