Friedrich Tietjen

Bilder gucken, Pillen schlucken


Im 15. Jahrhundert und später gab es Schluckbildchen, kleine Holzschnitte
mit Darstellungen von Schutzheiligen, die verzehrt dem körperlichen oder
jedenfalls dem Seelenheil der Gesunden und Kranken zuträglich sein
sollten. Aus naheliegenden Gründen haben sich wenige dieser kleinen
Graphiken erhalten; und als sie ausser Gebrauch gerieten, war damit auch
das Ende einer kirchlich sanktionierte Beziehung zwischen Kunst und
Medizin markiert - wenn in den Dickichten halb mythischen, halb
wissenschaftlichen Denkens die Grenzen dieser Bereiche sich überhaupt
deutlich hätten erkennen lassen. Beide haben später die Idee des
Schluckbildchens beerbt, zunächst ohne dabei auf gleiche Anteile Anspruch
zu erheben: Kunst bleibt der Mimesis verpflichtet, Medizin soll
heilen. Doch gleichsam stillschweigend und ex negativo referieren sie auf
einander: während Medizin den Menschen einem unerreichbaren Bild
anzugleichen nachstrebt (die WHO definiert Gesundheit nicht als blosse
Abwesenheit von Krankheit und Schmerz, sondern als einen Zustand
körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Wohlbefindens),
präsentiert Kunst neben anderem auch Aspekte gesellschaftlicher und
individueller Krankheit. Wenn man so will: Ist Leben die Krankheit zum
Tode, weil nach der oben zitierten Definition ohnehin niemand gesund sein
kann, tun Kunst und Medizin je nach Situation und Symptom das ihrige, um
den Verlauf zu beschleunigen oder verlangsamen - aufzuhalten vermögen sie
sie nicht.

Pillen als medizinische Abkömmlinge der Schluckbildchen sind Kapseln und
Kugeln, die ihren Inhalt selten, ihre Effekte nie erkennen lassen: diese
flache runde Tablette: enthält sie Acetylsalicylsäure, Diazepam, Nux
vomicum oder Äthinylöstradiol, lässt sie meine Muskeln schwellen, senkt
sie den Blutdruck, provoziert sie allergische Hautreizungen, bringt sie
mich um? Mattweiss, manchmal bunt versprechen noch Placebos all jenen
lindernde Wirkung, die nur fest genug und gestützt von den Suggestionen
des medizinischen Personals darauf hoffen. Solcherart sind Pillen
gleichermassen utopische Entwürfe, und wie es sich für anständige Utopien
gehört, lösen sie sich sich im Moment ihrer Realisierung spurlos auf. Und
weil so Kunst und Medizin in ihren Wirkungsmechanismen einander ähnlich
sind - denn auch Kunst ist mehr als sie zeigt, braucht die Projektionen
der Rezipienten und kann unerwünschte Nebenwirkungen nach sich ziehen -,
liegt es nahe, dass sie sich voneinander unterscheiden durch performative
Details, indem sie sich ins schlucken und gucken teilen: Denn weil es
wenig Geschmackskünstler gibt (will man nicht Haubenköche dafür halten),
passiert in der Kunst ausser den Canapés und Weissweinen der Vernissagen
wenig den Oesophagus. Hingegen ist die Medizin blendend und unansehnlich
zugleich, bevölkert von Halbmenschen in uniformem Weiss, die als einzige
ungerührt den Anblick pathologischer Präparate, geöffneter Bauchdecken und
langweiligster Zimmerpflanzen auf sich nehmen. Spezialisierung und
Vorurteile lassen kaum mehr Kooperationen und Überschneidungen beider
Bereiche zu: hier Gestalttherapie, dort bunte Kunstdrucke in
Patientenzimmern. Ihr darin sich abbildende Bewusstsein eigener
Unvollständigkeit findet seinen gutgemeinten Ausdruck im Streben der
Disziplinen nach einer Ganzheitlichkeit, das zu antithetischem Scheitern
am Paradox verurteilt ist, wo zuletzt vor Jahrhunderten mit den
Schluckbildchen eine Figur dialektischer Aufhebung gelang.