Ole Frahm/Friedrich Tietjen

Radio b richt

Am anfang war das rauschen, das niemand hörte. Die geschichte des radio, das ist bekannt, ist die geschichte von militär und industrie - es ist aber auch die geschichte der luft. Ihr wurde durch das radio eine neue bedeutung zugesprochen. Die luft wurde zur atmosphäre, ihre unsichtbarkeit rauschend hörbar. das blau des himmels ist elektromagnetisch.

Das radio ist kein alltagsgegenstand wie das auto oder der computer, ist kleiner, billiger, unauffälliger. Es ist beiläufig da. Wer mit dem radio aufgewachsen ist, benutzt es wie selbstverständlich, als teil gesellschaftlicher natur. So wenig im radio von seinen eigenen bedingungen und bestimmungen, von seiner jeweiligen produktion zu hören ist, so wenig radio sein hören senden kann, so wenig ist von seiner entstehung in erfahrung zu bringen: wer sich um die geschichte des radio kümmert, bekommt, was das radio auch sonst liefert: einen bericht.

Das radio scheint, anderen medien gleich, nicht ohne einen mythos seiner herkunft auszukommen. Der erzeugt entdecker wie einen Moses, der die gesetzestafeln vom berge Sinai trug: ohne den höhlenmaler von Lascaux kein comic, ohne Johannes Gutenberg kein buch, ohne Lumiere kein kino, ohne das bitterarme genie Paul Nipkow kein fernsehen. Immer einer in einer reihe voller zufälle, die mit der erfindung des jeweiligen apparats zu einer linie wurden, die alles erklärt.

Vom radio könnte mythisch so berichtet werden: Sir Francis Drake, chefingenieur des britischen Post Office, und die versicherung Golden Hind haben interesse an einer möglichkeit, informationen der über die meere kreuzenden britischen schiffe zu erhalten. Nach kaum erfolgreichen eigenen versuchen führt ihnen 1896 (das entstehungsjahr von comic und film) den verkrachten studenten Fillipo Marinetti zu, 1901 wird an der küste Cornwalls der erste grosse langwellensender installiert, 1906 gelingt es Reginald A. Fesselnden aus Massachussetts, nicht bloss morsezeichen, sondern klang, laut und geräusch auszustrahlen, 1908 betreiben ein paar gelangweilte funker auf der U.S.S.Columbus zum missvergnügen ihrer vorgesetzten und zur freude ihrer ebenso gelangweilten kollegen anderer schiffe für einige tage den ersten piratensender mit musik, 1909 eröffnet Joseph Herrolds in San Jose, Kalifornien, den ersten radiosender mit regelmässigem programm (musik und nachrichten), im 1. Weltkrieg wird die funktechnik von vaterländischen helden weiterentwickelt und eingesetzt, den jeweiligen gegner zu amüsieren, auszukundschaften und zu täuschen, 1917 schicken russische sender Leo Trotzkis "worte wie blitze" - -"AN ALLE" - in die welt, 1922 verkauft der lokale sender WEAF in New York zum ersten mal sendezeit an werbeleute und 1923 nimmt in berlin das erste rundfunkhaus im deutschsprachigen raum seinen sendebetrieb auf.

Die in der medienwissenschaft geschriebene fortschrittsgeschichte vermeidet den mythos nicht, der den heutigen zustand des radios retroaktiv totalisiert. In ihr dienen jahreszahlen und namen als beweis einer wahrheit, die die geschichte des radios einer vereinheitlichten, linearen zeit unterwirft, deren mächtigster agent das radio selbst geworden ist.

Radiogeräte bestimmen nicht, wer sie einschaltet: rundfunk ist monologisch, ist einfach und billig zu empfangen, gelangt in echtzeit an beliebig entfernte punkte der erde und sendet rund um die uhr. Radio ist klang, laut, geräusch.

Radio hören scheint nicht gelernt zu werden, scheint hören zu sein wie alles andere hören auch. Die kommunikationswissenschaft tat ein übriges, als sie das modell vom sender und empfänger zur grundlage einiger theorie erhob und damit wechselseitig die kommunikativen strukturen des gesprächs und des radios naturalisierte. Allerdings funktioniert die drahtlose kommunikation anders als die des gesprächs: dass die sendenden kaum darüber bestimmen können, wer sie hört, erschien dem erfinder Marconi als defekt der funktechnik. Während eines interviews im radio gestand er 1937, eigentlich dessen feind gewesen zu sein. Er habe lange nach methoden gesucht, um zu verhindern, dass ein sender von mehr empfängern als jenen gehört werde, die ihn hören sollten. Das phänomen, dass, wer sendet, nicht bestimmen kann, wer das gesendete empfängt, dass, was gesendet wird, potentiell AN ALLE gerichtet ist - dies phänomen wird interzeption genannt.

Es stellt für die militärische nutzung der funktechnik ein ernsthaftes problem dar: der dialog von befehl und gehorsam, meldung und bestätigung muss geheim zu halten sein, um in der schlacht den sieg zu erringen. "feind hört mit!" diagnostizieren die paranoiden militärs und suchen therapie in stets raffinierteren methoden der codierung und decodierung der berichte und befehle. Um dabei wenigstens nur mit gegnern zu tun zu haben, wurden lediglich einige frequenzbereiche für die zivile nutzung freigegeben und das abhören des funkverkehrs jenseits der skalen plombierter radiogeräte unter strafe gestellt.

Was im militärischen funk der defekt, ist bedingung des zivilen radio: wer sendet, ist vielen hörbar. Allerdings ist beim radio das recht zu senden so exklusiv wie beim funk das des empfangs. Kosten, komplizierte genehmigungsverfahren, und die geringe anzahl der freigegebenen frequenzen dienen als regulative und pragmatische argumente der begründung dafür, dass vielen hörenden wenige sendende gegenüberstehen, ohne dass jene auf diese erkennbaren einfluss ausüben oder sie gar auswechseln könnten. Der im funk mögliche dialog ("ZU BEFEHL!") mutiert im radio zu monologen. Deren brauchbarkeit als aufforderung, als vorschlag - AN ALLE - zur aktion wird selten genutzt. Üblicher ist es, mit dem apparat nach programmen - FÜR ALLE eines - zu verfahren. Regelmässig sich wiederholend bieten die programme den hörenden als kontingente strukturen verlässlichkeit im alltag und fordern sie zu wenig mehr auf als zum weiterhören eines programms, seines senders und zum stellen der uhr. Bezeichnete AN ALLE als einmalige losung aus der stille des studios den versuch, eine - revolutionäre - unterbrechung im alltag der massen zu erzeugen, sichern die verschiedenen programme in ihrer permanenten ausstrahlung ihre glaubwürdigkeit als berichte vom alltag, indem darin ihre kontingenz zum verschwinden gebracht ist. Sie verleihen der zeit linearität, weil sie sich ständig wiederholen. Meist im takt voller stunden wird in ihnen von der veränderung wenigstens einer uhrzeit berichtet.

1906 wurde in Deutschland der erste öffentlich erhältliche radioservice begonnen: für abonnenten mit plombierten geräten strahlte eine station in Nauen (Brandenburg) täglich um ein uhr nachts und um dreizehn uhr mittags ein zeitsignal aus. Erst seit mitte des neunzehnten jahrhunderts und im gefolge des stets weiter ausgebauten schienennetzes der eisenbahn waren die vielen lokalen zeiten in europa zugunsten einer einheitlichen abgeschafft worden. Die lichtschnelle ausbreitung der radiowellen garantierte dieselbe zeit für jeden ort präziser als chronometer. Statt deren ticken machen heute funkuhren und die zusammengestückelten stimmen der zeitansage zeitmessung hörbar. Radio reproduziert diese markierungen und gibt dem tag sein programm: aus dem wecker quellen ausgeruhte stimmen und anregende melodien, auf den autobahnen zucken die gasfüsse der individualverkehrsteilnehmenden im rhythmus von staumeldungen und popmusik, das mittagsmagazin reicht zu den speisen politische beilagen, gegen feierabend werden die werbeminuten teurer, und wer von der arbeit oder arbeitslosigkeit nicht müde genug ist, kann sich von nachtgedanken, schwermütigem jazz oder kuschelrock unanstrengend in den schlaf wiegen lassen. -Die station Nauen, pionierin der vereinheitlichten zeit in Deutschland, wurde letztlich selber deren opfer und musste ihren sendebetrieb zum 1.7.1990 einstellen.

Bericht im radio heisst: von allen orten an alle orte. Die quäkenden telephonstimmen aus den wohnzimmern der sachverständigen und den zeltlazarretten der katastrophengebiete gelangen drahtlos und in echtzeit in krankensäle, schwimmhallen, und schlafzimmer. Die flüchtigkeit solcher berichte lässt sich beeinflussen durch ihre wiederholung. Der status des berichts ist ergebnis der flüchtigkeit, autorisiert von der stimme der sprecherin, des sprechers, die eine nennung der nachrichtenagentur überflüssig machen kann. Er muss nicht wahr sein, um seinen beitrag zur herstellung von gegenwärtigkeit zu leisten: die marsmenschen waren auf der erde; gegen den irak wurde krieg geführt. AN ALLE produzierte qua anspruch und gegenwärtigkeit das erste mediale kollektive ereignis - und damit dessen begriff als kategorie der geschichte neu. Es ist kein zufall, dass intellektuelle der 20er jahre ihre hoffnung in die so erzeugte masse als historisch mächtige kraft setzten und heute von solchen strategien wenig wissen wollen.

Eine einheitliche zeit allen verbindlich an verschiedenen orten simultan anzusagen, ist die folgenreichste möglichkeit des radioapparats; keine sendeanstalt versäumt es, ihre hörerinnen und hörer regelmässig darüber aufzuklären, wie spät es schon ist. Radio schafft die masse der vereinzelt hörenden als teilnehmer und teilnehmerinnen einer gegenwart, als diffuses einheitssubjekt, dessen durch radio angeregtes handeln sich darauf beschränkt, bei glatteis gemeinsam nicht auf die strasse zu gehen, als imaginäre masse, in der ALLE bloss in einem gleich sind, auch wenn sie nicht radio hören: sie senden nicht. Ihre unterschiede, ihre gemeinsamkeiten verschwinden nicht: sie sind dem vergleich entzogen; sie werden unmerklich wie die geringe verzögerung, die die lichtschnelle zeit des radio von der echtzeit trennt. Die übertragung selbst schafft keine genaueren unterscheidungen: Der Deutschlandfunk wispert in asylunterkünften und schrebergärten, in pförnterlogen und chefetagen, in bordellen und frauenhäusern. Die implizite klassenlosigkeit, die im spartenradio durch die kategorie geschmack untergliedert wird, kann sich nur realisieren, weil sie imaginär und damit unhörbar bleibt.

Frei war das radio im anfang nur im rauschen, das niemand hörte.

Der bericht von der geschichte freien radios ist kaum geringer mythisiert als der bericht von der geschichte des radio. Weniger von grossen männern als heroischen versuchen der aneignung des apparats ist in ihm zu lesen. Inwiefern diese versuche aber befreiungen, die mediale möglichkeiten entfesselten, also politisch in ihrer wirkung waren, ist deshalb schwer zu beantworten, weil die geschichte des radio selbst als bericht seiner entfesselung interpretiert werden kann.

War radiophonie am anfang dieses jahrhunderts ein wechsel zwischen morsesignal und rauschen und damit nur für die drahtlosen funker von marine und militär interessant, schuf Fessenden die voraussetzungen einer allgemeinen interzeption, indem er klang, laut und geräusch in den äther brachte. Im bewusstsein dieser neuerung begann er seine sendungen mit dem morsezeichen -.-. - -.-, das eigentlich notrufen vorausgeht und ALLE um aufmerksamkeit bittet: seitdem lässt sich an der drahtlosen kommunikation teilnehmen mit nichts mehr als ohren und einem empfangsgerät. Wer VON ALLEN gehört werden wollte, musste sicherstellen, dass alle über anzuschaltende geräte verfügten - nicht ohne grund hat Goebbels, kaum zum minister für propaganda berufen, als erster politischer praktiker der interzeption die fertigung empfangsschwacher rundfunkgeräte so angekurbelt, dass es für alle billig wurde, den Führer zu hören und nichts anderes als des Führers tanzmusiken. Das und die strafe mit dem tod hielt allerdings wenige davon ab, während des II. Weltkriegs mit empfangsstärkeren geräten BBC zu hören und die feindpropaganda im Deutschen Reich zu verbreiten.

Das paradox das Leninschen AN ALLE wird erst in diesem moment deutlich, da die interzeption durch die flächendeckende verbreitung von empfangsgeräten installiert ist: potentiell sind alle erreichbar geworden, könnten alle hören und tun es nie. Das ungerichtete senden und damit die unbestimmtheit des empfangs hat erhebliche folgen für die gestaltung der prrgrammstruktur einzelner sender: die masse der empfangenden muss als ganze oder segment daraus imaginiert werden. Das definierbare publikum des radio ist ein medial hergestelltes. Die verschiedenen senderformen - staatsfunk, piraten und private sender - lassen sich als modelle darstellen, die dem paradoxen innewohnende spannung zu operationalisieren.

Zu dieser problematik gesellt sich eine zweite apparative bedingung: Während noch die funker der U.S.S. Ohio fast ausschliesslich kollegen auf anderen kriegsschiffen hörbar wurden, die ihnen per funk antworten konnten, erweiterte Harrolds sender das publikum zu dem zivilen zunächst einiger dutzend radioamateure in San Jose - um den preis, dass deren geräte nur empfangen konnten: die geburt des radio, wie wir es bis heute kennen.

Wer heute sendet, wird sich mit diesen fragen auseinanderzusetzen haben, die sich aus der konstituierung des apparates ergeben: wie einerseits, wo schon nicht AN ALLE, so doch FÜR VIELE gesendet werden kann, welche möglichkeitn andererseits den hörenden gegenben sind, auf ihr verhältnis zu den sendenden einfluss zu nehmen. Diese durch die struktur es radio aufgegebenen probleme, haben - als befreiung von ihnen - zu verschiedenen lösungsversuchen geführt.
Drei beispiele:
> Der Arbeiterradioklub der Weimarer Republik organisierte das gemeinschaftliche hören der deutschsprachigen programme des moskauer senders WZRPS durch eigenbau entsprechender empfangsgeräte, die die einzelnen arbeiterinnen und arbeiter sich allein nicht leisten konnten, brachte unverdrossen die forderung nach der einrichtung eines arbeitersenders vor, der schliesslich 1932 als piratenradio installiert wurde, als notverordnungen das erscheinen der kommunistischen presse immer häufiger verhinderten. die empfängerinnen und empfänger organisierten sich, um zu ALLEN überhaupt dazuzugehören und wurden schliesslich zu sendenden.
> Weil die BBC nach meinung eines musikproduzenten nicht für ALLE die musik spielte, die sie hören wollten, installierte er zusammen mit anderen hörenden ausserhalb der hoheitsgewässer von 1964 bis zum ende der sechziger jahre einen kommerziellen piratensender, Radio Caroline, den nach eigenen angaben millionen gehört haben. Auch hier entschieden sich empfänger, zu sendern zu werden, um wiederum empfangen werden zu können. Caroline versuchte nicht, den apparat zu verändern, geschweige denn, mit dem paradox anders umzugehen, als die BBC - indem Caroline deren monopol brach, was er der erste der britischen privatsender, brachte deren lizensierung auf den weg und machte deutlich, was öffentlich-rechtliches und kommerzielles radio nicht voneinander unterscheidet.
> Radio Alice aus Bologna nutzte umgekehrt eine gesetzeslücke: nachdem 1976 da rundfunkmonopol in Italien für verfassungswidrig erklärt worden war, hängten tausende kleiner rundfunkstationen ihre antennen in die luft. Meist kommerziell, waren sie wenigstens nicht illegal. Alice als eine der wenigen nichtkommerziellen stationen versuchte im gegensatz zu Caroline, den technischen apparat des senders zu verändern, indem es ihn einerseits mit dem des telephons koppelte: jeder empfänger, jede empfängerin konnte und für die zeit des telephonats zurm sendenden werden; und andererseits die türen des studios offen hielt wie das mikrophon. AN ALLE wurde so zum FÜR ALLE, die sich beteiligten. Das programm wurde auflösbar, konnte permanent unterbrochen werden. Das konzept funktionierte soweit, als Alice die politische bewegung Bolognas diskursiv mit der bekannten konsequenz verstärkte, nach wenig mehr als einem jahr, im verlauf von unruhen anlässlich der ermordung eines studenten durch einen carabiniere, von polizisten besetzt zu werden. Das sendegerät, über das viele stimmen sprachen, wurde zerstört.

Die geschichte des freien radio berichtet von der organisation der interzeption auf seiten des sendens und des hörens. Das heute verbreitete modell der staatlichen kontrolle des sendens (frequenzvergabe) und des hörens (vorgeschriebene plombierung der geräte, gebührenerhebung) ist nicht selbstverständlich. Piratenradios erinnern daran. Kein Versuch aber konnte das konstituive paradox des radioapparats beseitigen. Immer gab es sendende und empfangende, nie wurde die interzeption in ihrer unbestimmtheit entfaltet. Im gegenteil. Die freien radios der gegenwart kontsituieren sich gerade als lokale sender, mit programmen, deren struktur als die eines linken formatradio sich vom öffentlich-rechtlichen in ihren bedingungen nicht unterscheidet.

Freies radio geniesst das ephemere elektromagnetischer produktionsbedingungen. Nicht aus unverantwortlichkeit, sondern aus dem wissen um die notwendigkeit täglicher wirkung als bedingung politischer veränderung.

Alle zeit ist wichtiger ist das motto des öffentlich-privaten radios. Alles muss durchgehört werden, und jeden moment kann etwas noch bedeutenderes , eine noch wichtigere meldung , ein noch grösserer hit kommen. Alle zeit ist wichtiger wird durch werbung zum prinzip des radio präzisiert, indem sie jede ihrer sekunden teuer bezahlt. Entscheidend ist die kontinuität als einheitliche zeit. Freies radio versucht, alle zeit ist wichtiger politisch zu wenden, wenn es sein programm als bestimmung der gegenwärtigkeit gestaltet und den komparativ streicht: alle zeit ist wichtig. Die so erhoffte gegenwärtigkeit der kollektive soll sich als eingriff in die geschichte realisieren.

Interzeption als voraussetzung allen radios wird von den freien radios gleich begrenzt genutzt wie von öffentlich-privaten. Beide sind an einen begrenzten senderaum gebunden. Global denken, lokal handeln ist bis heute ihr inzwischen kirchentagskompatibles motto, mit dem sie gerade die einheit von zeit und ort herstellen, die radio qua interzeption (alle hören an verschiedenen orten und damit zu verschiedenen zeitpunkten und dennoch gleichzeitig) beseitigt hatte. Freies radio vereinheitlicht die zeit seiner kleinen orte wie die übrigen sender, gegen die sich ihr konzept einer gegenwärtigkeit abheben will, und doch dem gleichen, authentisierenden handlungsmodell verpflichtet bleibt: denn solches radio produziert über diskursive ereignisse das phantasma des realen, dessen effekte vorstellungen von historischer veränderung sind. Bleiben die hörenden beim öffentlich-privaten radio zuhause, weil sie am realen eh nichts ändern können, macht freies radio glauben, eine demo sei das reale. So realisiert sind die ereignisse nicht mehr als diskursiv produzierte operationalisierbar, sondern werden zu mythen von veränderung in einer als kontinuierlich verstandenen geschichte. Wäre der mögliche einsatz lokalen freien radios einen erweiterten raum zu produzieren, in dem der effekt einer rückkoppelung zwischen dem - freien - sender und den empfangenden als gegenwärtigkeit hörbar und der diskurs selbst zum ereignis würde, bleibt dieser einsatz doch dem versuch verhaftet, die apparativen bedingungen zu überwinden, anstatt sie hörbar zu machen. Die leute selber reden zu lassen, alle reden zu lassen, einen offenen sender zu haben, wie Radio Alice behauptete, leugnet die unmöglichkeit der realisierung einer auflösung und verschleiert die dem apparat inhärenten machtstrukturen: sender oder empfänger: - es gibt nur eine möglichkeit - wer entscheidet, wer zum sender wird? Und es bleibt immer nur Bologna, wo gesendet wurde. Entscheidend für freies, lokales radio ist die einheitlichkeit des ortes.

Ein produkt des radio ist das phantasma der ereignisses. Beim üblichen lokalen wie auch beim freien radio wird das ereignis als ein zeitpunkt an viele orte gebracht, die damit auf diesen geeicht werden. Das medium des ereignisses ist der bericht, im radio live, zu bestimmten zeiten, meistens stündlich gesprochen. Selten kommt einer allein aus den lautsprechern. Die differenzen zwischen berichten, zwischen den vielfältigen raumzeiten und zeiträumen, werden durch das programm vereinheitlicht. Gängiges radio mit seiner einheitlichen zeit erzeugt durch seine berichte von ereignissen unverbundener orte kaum die fähigkeit zum handeln. Es garantiert die distanz dieser vereinzelten orte zum lautsprecher, dem ort der ebenso vereinzelt hörenden und hilft allenfalls die katastrophenkonten überregionaler organisationen zu füllen: FÜR ALLE betrifft nicht alle, lässt aber ihre wohltätigkeit wenigstens den status einer ersatzhandlung gewinnen. Im völligen gegensatz dazu steht der anspruch lokalen, freien radios, das die one world propagiert, aber an seinem einem ort, auf seiner frequenz verharrt und die anderen orte nicht weniger geschlossen denken lässt; lauter nationen. Beider bericht unterscheidet sich nicht in bezug auf die mögliche politisierung der hörenden. Sie bleiben konsumenten, konsumieren mal informationen, mal fair gehandelten kaffee. Während öffentlich-privates radio das ich bin informiert erzeugt, produziert lokales radio das ich bin dabei - ohne mitzuteilen, dass solch dabei sein nicht zu haben ist - schon gar nicht durch das radio, das diese hoffnung auf präsenz technisch produziert.

Während - unzulässig knapp formuliert - öffentlich-privates radio das paradox des AN ALLE mit hilfe von einschaltquoten zu verschleiern sucht, scheitert der versuch der überwindung des paradoxons an dessen immer wiederkehrenden kontingenten voraussetzungen und damit freies lokales radio notwendig. AN ALLE stellt gegen beide realisierungen von radio die forderung nach einem globalen freien radio, das zeit und ort nicht vereinheitlichen kann. So unrealisierbar es erscheint, so interessant sind seine medialen bestimmungen umgekehrt für die strategien lokaler freier sender.

Denn globales radio berichtet von verbundenen, aber uneinheitlichen orten. Sein motto lautet schlicht: global handeln. Es formuliert die aussage des ich bin dabei als frage, als problematik, die sich nicht auflösen lässt. Während lokales radio das ereignis als besonderes, als einspruchsmöglichkeit gegen das allgemeine zu behaupten versucht, verharrt globales radio vordergründig in dem paradox, ereignisse als einzelne zu berichten. Globales radio hat den anspruch, das paradox hörbar zu machen. Seine verbindungen bleiben kontingent, ihre effekte aber sind transversal und nichtlinear. Während das lokale radio zur teilnahme an lokalen ereignissen auffordert und die wiedergewinnung der handlungsfähigkeit feiert, indem sie deren effekte auf den abgegrenzten ort beschränkt, fordert globales radio andere handlungen, die produktionen anderer ereignisse mit nicht abzusehenden effekten. Das ereignis wird hier als historische kategorie neu produziert.

Entsprechend hat globales radio kein morgenjournal, in dem die nachrichten eines beginnenden tages berichtet werden könnten. Oder es ist immer ein morgenjournal. Es hat auf alle fälle kein programm. Sein einziges programm ist die zeitdifferenz: es macht die zeitdifferenzen hörbar und damit die der orte. Die differenzen zwischen der produktion von ereignissen werden von ihm als mögliche gedacht.

Die differenzen von zeit und ort, ihre uneinheitlichkeit hörbar zu machen, ist die funktion des rauschens. Verdrängen öffentlich-privates und lokales radio das rauschen aus ihrem programm, ist es beim globalen radio als technische bedingung des apparats willkommen. Globales radio macht das rauschen hörbar: Nicht als ursprünglicher nicht-sinn oder rauschen der materie, als anspielung auf die wahre natur des radio, sondern im gegenteil, als produkt des sinns, von klang, laut und geräusch. Globales radio lokalisiert sich in räumen zwischen sinn und nicht-sinn, rauschen und geräusch, die nicht lokalisierbar sind: zwischenräume der ereignisse als produktion medialer praktiken. Im zwischenraum wir globales radio geoid, indem es die runde einheit der one world auflöst, erweitert, faltet und zerreisst.

Insofern muss der bericht freien radio, um politisch zu werden, die produktion phantasmatischer ereignisse stören. Dafür muss es den apparat verändern, von dem es sich nicht frei weiss. Es macht die gleichen voraussetzungen wie Günter Anders - es starrt (als schlange) auf die produkte (das kaninchen), anstatt die produktionsmittel (die mechanismen der erzeugung der produkte) zu fressen, indem es sich um das vermeintlich vermittelte, nicht aber um die vermittlung sorgt. Wer glaubt, es gäbe eine richtige, oder noch lustiger: gar keine manipulation, blendet vor der notwendigkeit der produktionen als schon vorhandener ab. Freies radio muss also zunächst die frage beantworten, welche anderen bedingungen der produktion innerhalb der bestehenden produktionen und deren macht möglich sind. Das ist nicht allein die frage, wer die apparate besitzt, sondern wie ihre konstitution verändert werden kann. Das heisst, dass zuerst die produktionsbedingungen zu bestimmen und die rezeptionsbedingungen zu subvertieren sind. Das beginnt mit dem senden auf frequenzen, die vorher nur rauschten, ein senden, das sich bald wieder dem rauschen übergibt. Die am liebsten angegriffene bedingung war das monologische des radio. Radio Alice hat bewiesen, dass es kommunikationsmodelle jenseits des dialogs gibt, indem es die worte der anrufer, die geräusche ihrer orte über den sender an viele orte der stadt verteilte, also den einen ort vervielfältigte und so neue öffentliche räume schuf. Vergleichbar einigen versuchen der zwanziger jahre, einfach ein mikrophon auf eine strasse zu stellen und direkt über den äther zu übertragen, wurde bei Alice das scheinbar nebensächliche, das noch unbedeutende, das alltägliche hörbar und konnte damit als aufruhr bestimmt werden. Die ereignisse hatten damit einen anderen status als diskontinuierliche und je zu produzierende. Echtzeit als produktion einer einheit wurde für deren zersetzung genutzt. Radio Alice stellt sich so als modell globalen radio dar, insofern es nicht einfühlung, sondern veränderung forderte und ereignisse nicht linearisierte, sondern deterritorialisierte.

Die erde muss Bologna 1976 werden.

Erstdruck: Vor der Information, Nr. 3/4, Wien 1995, p. 66-72
vor.ri@eunet.at