Konrad Tobler

Black Box


Bis das Auge im Dunkeln erhellt ist Dunkelheit. Dann erhellt es sich in den schwarzen Kunst-Räumen: Der Black Box widmet das Kunstmuseum Bern eine emotional und intellektuell brisante Ausstellung.


Jetzt gilt es einzutauchen. Abzutauchen. In die Dunkelheit. Denn so dunkel wars noch nie im Kunstmuseum Bern. So labyrintisch war es noch nie. So schön verunsichernd wars nur selten. Es gilt, sich voranzutasten in all den Black Boxes. Und sich langsam auf all das einzulassen, was geschieht - darauf vertrauend, dass sich im Dunkeln vieles erhellt. Es tauchen Bilder auf, Stimmungen, Geräusche. Es tauchen Gefühle auf, Spannungen - und Erkenntnisse.

In der Höhle des Scheins
Mit seiner ersten grossen und gewichtigen Ausstellung «Black Box» geht der Kurator Ralf Beil nämlich nicht nur auf die Tatsache ein, dass die aktuelle Kunst sich vermehrt in schwarzen Räumen abspielt und den seit Jahrzehnten fast sakrosankten White Cube, den blanken weissen Ausstellungsraum, vor allem mit den Videoinstallationen verlassen hat. Mit «Black Box» knüpft Beil, ohne die sinnlich emotionale Ebene je zu verlassen, zugleich an alte Traditionen, Überlieferungen und Philosophien an.
Man erinnert sich: Der antike griechische Philosoph Platon erzählt in seinem berühmten Höhlengleichnis, wie die Menschen in einer Höhle auf die Wände starren und meinen, die in einer Art Schattentheater auftauchenden Gestalten seien die Wirklichkeit. Erst wer sich von dieser Scheinwelt lösen kann und den Ausgang der Höhle erreicht, wird, geblendet von der grellen Sonne, die Wahrheit sehen.

Der Tod fährt mit
Die Wahrheit gibts in der Black Box nicht zu sehen, selbst wenn unser Auge «sonnengleich» wäre, wie das Goethe formuliert hat. Obwohl sich Goethe immer wieder mit dem Phänomen des Lichts beschäftigte, gefiel ihm, so die Überlieferung, das reizende «Transparenten-Kabinett» nicht, mit dem der Berner Kleinmeister Franz Niklaus König um 1820 in Europa herumtourte. Mit dieser Rarität beginnt «Black Box», die überhaupt in modellhafter Weise mit Werkgruppen aus der Sammlung des Kunstmuseums operiert und so zeigt, dass deren Bewegung Neues hervorbringen kann.
Von Königs leuchtender Nachtansicht des Vierwaldstättersees direkt in die Nacht Englands. Es beginnt eine Autofahrt, die ganz schön mitnimmt. Das britische Künstlerpaar Stephanie Smith (*1968) und Edward Stewart (*1961) fährt im Dunkeln über eine Landstrasse. Nur die Scheinwerfer beleuchten flüchtig die Gegend wie umherschweifende Augen. Dann sind sie ausgeschaltet. Das Auto fährt weiter. Im Projektionsraum ist es stockdunkel. Irgendwie ist plötzlich der Tod da, zumindest in einer blitzartig auftauchenden Vorstellung.

Ein Leuchten im Finstern
Solches packt, ganz ohne Effekthascherei. Die Ausstellung «Black Box» setzt als einzigen Effekt neben den Kunstwerken die intensiv erlebbare Dunkelheit ein, durch die man sich vorantastet, immer dem mehr oder weniger hellen Schimmer des nächsten Kunstwerks folgend.
In eine Black Box mit einem schweifenden, seine Konturen immer wieder verlierenden Bild («Searchlight» von Gary Hill) schimmert ganz warm ein Licht: «Leçons ténèbres» von Christian Boltanski (*1944). Kerzen werfen vergrössernd die Schatten von Totentanzfiguren aus einfachem Kupferblech an die Wand. Der weihevolle Raum - in solchen Inszenierungen ist der Franzose Boltanski ein Meister - nimmt die mittelalterliche und mexikanische Auseinandersetzung mit dem Tod auf - in der Projektion der Schatten aber auch das bis Anfang des 20. Jahrhunderts beliebte Projektionspiel der Laterna Magica.
Offensichtlich ist es in keiner Weise so, dass die Black Box eine neue Erfindung wäre. Der Begriff stammt zwar aus der modernen kybernetischen Systemtheorie und bezeichnet den Ort innerhalb eines Systems, wo dessen Gesetze unbekannt bleiben. Das erste Bild einer Camera obscura ist aus dem Jahr 1544 überliefert. Seither ist der schwarze Raum der Projektion ein Instrument der Forschung, der Welterfahrung - und der künstlerischen Produktion. Insofern ist der in Biel lebende Rudolf Steiner (*1964) mit seinen faszinierend einfachen und doch verwirrenden «Pictures of me shooting myself into a picture» ein Nachfahre des berühmten niederländischen Malers Jan Vermeer (1632 bis 1675). Als gewiss gilt nämlich gemäss neuen Forschungen, dass Vermeer die Lochkamera mit ihrer seitenverkehrten Projektion für die Aufnahme seiner (Bild-)Architekturen verwendete.

Munkeln im Dunkeln
Im Dunkeln schweifen die Gedanken. Das lässt «Black Box» durchaus zu. Dunkelheit schliesst ab und ein - und ermöglicht eine merkwürdige Öffnung. Die Zeit vergeht anders, wenn man im fast absoluten Dunkeln sich am Geländer einer kleinen Empore festhalten kann und farbige Zahlen herumschwirren sieht. «Running Time» nennt der japanische Künstler Tatsuo Miyajima (*1957) sein Ensemble, das bei Licht besehen einzig aus herumfahrenden elektrischen Modellautos bestehen würde. So aber, im Dunkeln, evozieren die von den Autos herumgefahrenen digitalen Zahlen ein fliessendes System von wechselnden Zeiteinheiten, von einer schönen Ordnung chaotischer Bahnen. Und von Ruhe.
Das lässt sich regelrecht «Erfahrung» nennen, eine Wirkung, die in dieser Ausstellung immer wieder eintritt: Erfahrung mit Verletzlichkeit und sexueller Intimität bei der beleuchteten Alabasterskulptur von der immer wieder überraschenden Altmeisterin Louise Bourgeois (*1911). Erfahrung vom Lauf und Stillstand der Zeit vor dem Wasserstrahl, den Olafur Eliasson (*1967) von der Decke herabplätschern lässt und im flimmernden Licht einer Stroboskoplampe gerinnen lässt. Erfahrung des intensivsten Hörens, welche die an der aktuellen Biennale von Venedig ausgezeichnete kanadische Ton-Magierin Janett Cardiff (*1957) mit einem alten Tisch im dunkeln Raum auslösen kann. Dieser Tisch ist nämlich mit Sensoren ausgerüstet, die beim Berühren eine Tonkulisse vom Einzelton über eine Geschichte bis hin zum Wirrwarr auslösen.
Und im Dunkeln weitertappen zu den Arbeiten von Francis Alys (*1959), von Douglas Gordon (*1966), die in ihrer ganzen formalen Simplizität aufwühlen. Oder zur Black Box von Rodney Graham (*1949) gelangen. Sich überraschen lassen. Sich darauf einlassen. Sich der Dunkelheit gewissermassen hingeben. Immer wieder neu eintauchen in die Dunkelheit, immer wieder auftauchen - als ob man erwachen würde, als ob man das Licht der Welt erblicken könnte.

Helle Kammer des Kopfes
In der Black Box des eigenen Kopfes geschieht da einiges. Das Auge wird zur Linse, das Gehirn zur Dunkelkammer. So wie sich das Auge an die Dunkelheit gewöhnt und mehr und mehr sieht, klären sich nach und nach Bilder im Kopf. Kunst in dieser Form trägt augenscheinlich zur existenziellen Aufklärung bei.
Etwas betäubt tritt man aus der Welt der Black Box wieder in den Schein des Tageslichts.