Wissenschaft, Alltag, Körpernormalität

Doch bleibt die Frage, wie Körper zu sprechen beginnen. Und bleibt vor allem die Frage, wie sie gehört werden. Und von wem? Was ist das für einer/für eine, der/die das Sprechen eines Körpers vernimmt? Wie? Wenn es so ist, dass das Schweigen des Körpers Gesundheit und Normalität indiziert, während die Krankheit, der Schmerz (das Anormale!) das ist, wo der Körper zu sprechen beginnt, dann muss der eigene Körper schweigen, wenn wir über "den Körper" zu sprechen beginnen. Wir bringen ihn zum Verstummen, verbannen ihn in dumpfe Normalität, um das, was wir von "den Körpern" (der andern) wissen wollen, zu vernehmen: das Erregende, Krankhafte, Aufregende, Leidvolle, Schmerzhafte, Pathologische. Das Kulturelle, Allgemeine und gleichzeitig Abweichende. Bekannt ist uns dies vor allem aus der Geschichte der Medizin und der Psychoanalyse, die es geschafft hat, für den weiblichen Körper einen Sonderstatus zu errichten, hinter welchem der männliche Körper in Normalität geradezu erstarrte. Wie normal muss Freud sich in seinem Körper vorgekommen sein, als er die hysterischen Frauen behandelte, als er ihren Kastrationskomplex entdeckte! Wie normal muss sich der Gynäkologe vorkommen, der einer Frau die Gebärmutter entfernt!
Aber wie normal kommen sich die Sportlichen vor, wenn sie an einem hinkenden alten Mann vorbeilaufen? Wie normal fühlt sich die Magersüchtige, wenn sie im Schwimmbad einem Bodybuilder zusieht? Wie normal der bleiche Uebergewichtige, der einer Gogo-Tänzerin zusieht? Wie normal einer, der an die Veränderung des Körpers glaubt, wenn er der Unveränderbarkeit der antiken Gipskörper begegnet?
Normalität ist eher eine Sache der Wissenschaft, nicht des Alltags.



Bild: Corina Lempen Text: Silvia Henke